Ruf Der Tiefe
vor?«
Leon zögerte. Wie viel sollte er ihr sagen? Ein Ultraschall-Kanal war zwar weitgehend abhörsicher, aber es konnte ja sein, dass rechts und links von Billie irgendwelche ARAC-Leute standen und zuhörten. Nein, so was würde Billie niemals dulden! Er wollte gerade etwas sagen, ihr zumindest erklären, was überhaupt passiert war, da unterbrach ihn Billies Stimme. Ihr Klang hatte sich verändert. »Erinnerst du dich noch an die Legende von Atlantis?«
Im ersten Moment war er verblüfft. Doch dann fiel ihm wieder ein, worauf sich das bezog, und war auf der Hut. Die Legende von Atlantis war eine der Geschichten, die Billie geschrieben hatte, damit ihre Geocaching-Ausflüge ein richtiges Ziel, einen Hintergrund hatten. In der Story gab es einen Jungen, der wusste, wo unter Wasser die Ruinen der untergegangenen Insel zu finden waren – und ein Mädchen entlockte ihm das Wissen mit List und Tücke, während der Feind zuhörte.
»Nee, wieso? Was für eine Legende?«, log Leon. »Jedenfalls bin ich abgehauen, weil ich mir selbst anschauen will, was hier unten los ist. Als Nächstes in der Gegend von Maui.« Schadete nichts, die ARAC ein bisschen in die Irre zu führen.
»Ja, Tim hat angedeutet, dass du so was vorhast«, meinte Billie.
Leons Herz setzte einen Moment aus. »Wie geht es Tim? Ist er sehr sauer auf mich?«
»Keine Ahnung, er redet nicht drüber. Er arbeitet wie ein Wilder und starrt manchmal ganz komisch aufs Meer hinaus.«
Das klang nicht gut. »Wie ist die Evakuierung gelaufen?«
»Es war furchtbar. Tom hat die ganze Zeit geheult, wegen Margaret. Du weißt ja, sie kann nur in der Tiefsee leben, und die ARAC hat entschieden, sie vorübergehend sich selbst zu überlassen. Julian wirkte auch angeschlagen. Kovaleinen hat sich nicht viel anmerken lassen, aber ich glaube, der ist auch ziemlich am Ende – du weißt ja, die Benthos-Stationen sind sein Baby.«
Leon seufzte. Er war nicht der Einzige, dem es gerade schlecht ging. »Übrigens hat mich Margaret angegriffen, als ich das letzte Mal in der Nähe der Station draußen war. An Stelle der ARAC würde ich nicht noch mal versuchen, einen Taninigia danae als Partner einzusetzen.«
Während sie plauderten, war er mit Lucy immer weitergeschwommen, und jetzt aktivierte er mal wieder das Sonar an seinem Handgelenk, um einen Eindruck von der Umgebung zu bekommen. Diesmal zeigte der Bildschirm etwas Seltsames an – eine Art Hügel auf dem ansonsten flachen Meeresboden.
»Muss Schluss machen«, teilte er Billie mit. »Sag den anderen … sag ihnen …«
»Dass sie dir fehlen?«
»Ja. Stimmt.« Leon spürte, wie seine Kehle eng wurde. »Richte ihnen das bitte aus.«
»Mach ich. Pass auf dich auf! Ach ja, und von Ellard soll ich dir ausrichten, dass du bitte deine OxySkin regelmäßig checken sollst.«
Lächelnd schaltete Leon ab. Manche Dinge änderten sich einfach nie, Ellard war und blieb eine Glucke. Und selbst Rebellen, die gerade einem ganzen Konzern den Stinkefinger gezeigt hatten, mussten auf ihren Ausbilder hören. Zumindest dann, wenn er recht hatte.
Er konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag. Ein ausgesprochen seltsames Echo. Es schien sich zu bewegen, fast zu wabern. Lucy, was ist das?
Doch Lucy stürmte schon neugierig voraus und hatte anscheinend keine Zeit für eine Antwort. Ärgerlich schwamm Leon ihr nach, schaltete seine Lampe auf Weißlicht und ließ sie aufleuchten. Der bleiche Lichtfinger strich über etwas, das auf den ersten Blick wie ein länglicher, gewölbter Felsen aussah und auf den zweiten Blick dann doch ein gewaltiger Körper war. Massig wie ein gesunkenes Fischerboot ragte er über Leon auf, und die mehr als fünf Meter langen Flossen mit der weißen Unterseite ließen keinen Zweifel daran, worum es sich handelte – den riesigen Kadaver eines Buckelwals!
Der Anblick deprimierte Leon. Er kannte und mochte Buckelwale, viele von ihnen kamen jeden Winter in die tropischen Gewässer Hawaiis, um ihre Jungen zur Welt zu bringen und sich zu paaren. Mit ihnen zu schwimmen war wie ein Tanz unter Wasser. Friedlich und neugierig hatte sich einmal ein junger Wal ihm genähert und sorgfältig darauf geachtet, ihn nicht mit den Flossen zu verletzen. Hoffentlich war es nicht dieses Tier, das jetzt hier unten lag. Nein, das hier sah eher nach einem Weibchen aus, das an Altersschwäche eingegangen war.
Anscheinend war der Wal erst vor wenigen Wochen gestorben und hinabgesunken bis zum Grund. In der Tiefsee, wo es mangels
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