Ruf Der Tiefe
Angriff!
Bevor Leon ganz begriffen hatte, was geschah, schwenkte der Wal ab und zog an ihnen vorbei. Eine Druckwelle wirbelte sie herum … und dann fühlte es sich an, als treffe Leon ein Schmiedehammer mit voller Wucht. Die Lampe wurde ihm aus der Hand geschmettert, der Halteriemen riss und das Licht trudelte in die Tiefe davon. »CONVERTER FAILURE«, verkündete eine Computerstimme in seinem Ohr. »ATTENTION, CONVERTER FAILURE, BELT MALFUNCTION, SUIT PUNCTURE!«
Halb betäubt versuchte Leon, Atem zu holen und festzustellen, was passiert war. Lucy lebte, sie klammerte sich mit allen acht Armen an ihn und erdrückte ihn wieder einmal fast vor Angst. Weg, weg? Ist er weg?
Unendliche Erleichterung, dass seiner Partnerin nichts passiert war, durchflutete Leon. Ja, aber ich glaube, er hat uns beim Davonschwimmen mit der Schwanzflosse erwischt. War bestimmt keine Absicht. Er hat sich vor uns erschrocken.
Es war ein eigenartiger Gedanke, dass ein Wal von der Größe einer Lokomotive sich überhaupt vor irgendetwas erschrecken konnte, doch sicher begegnete auch ein Pottwal nicht alle Tage einer Krake, die in Begleitung unterwegs war.
Mühsam sog Leon Flüssigkeit in seine Lungen und versuchte, so gut es ging, seine Ausrüstung zu checken. Anscheinend hatte die OxySkin ein paar kleine Lecks, aus denen langsam das Perfluorcarbon entwich. Außerdem hatte es den Konverter erwischt, der ihn ernährte, und es fühlte sich an, als seien die Linsen seiner Anzugsmaske verrutscht, aber das war nicht weiter tragisch, er sah sowieso nicht mehr sonderlich viel, seit er seine Handlampe verloren hatte und die Kopflampe defekt war. Schlimmer war, dass auch sein Werkzeuggürtel beschädigt zu sein schien … und darin befand sich die Auftriebsmechanik, die automatisch »tarierte«, also sicherstellte, dass er frei im Wasser schweben konnte und dabei weder stieg noch sank, wenn er das nicht wollte. Schon jetzt merkte er, dass er ständig mit den Flossen schlagen musste, um seine Position zu halten. Auch sein DivePad schien etwas abgekriegt zu haben, der Bildschirm flimmerte und zeigte kaum noch etwas an.
Es war aus. Ihre Flucht war vorbei. Mit so stark beschädigter Ausrüstung konnte er nicht mehr zum Lo’ihi zurückkehren, er konnte von Glück sagen, wenn er es ungeschoren zur Oberfläche schaffte. In fünfhundert Meter Tiefe Probleme mit dem Anzug zu haben konnte übel enden.
Wir müssen auftauchen, meine OxySkin zickt herum , teilte er Lucy schweren Herzens mit und ihre Umklammerung wurde zu einer besorgten Umarmung.
Wieder einmal war Leon froh, dass er nicht mit Pressluft oder einer anderen Gasmischung tauchte. Gewöhnliche Taucher mussten, wenn sie tief unten gewesen waren, extrem langsam aufsteigen, um ihre Körper wieder an die Oberfläche anzupassen. Denn unter hohem Druck gingen Gase wie Stickstoff, die in der Luft enthalten waren, ins Blut über. Durch lange Pausen beim Aufstieg musste man dieses Gas wieder aus sich herausatmen. Wenn man das nicht tat, waren die Folgen furchtbar und oft tödlich: Überall im Körper bildeten sich Gasbläschen, das Blut begann zu schäumen. Genau das, was passierte, wenn man eine Sprudelflasche schüttelte und dann öffnete. Je tiefer man getaucht war, desto größer die Gefahr. Wer sich unter dem Druck von mehreren Hundert Metern Tiefe aufgehalten hatte, musste nach der Rückkehr sogar mehrere Tage oder Wochen in einer speziellen Druckkammer verbringen, um den Körper ganz langsam wieder zu dekomprimieren. Nur Flüssigkeitstauchern blieb diese Gefangenschaft erspart. Wenn Leon und die anderen Jugendlichen tauchten, nahmen sie lediglich Sauerstoff aus dem Meer auf, keine anderen Gase, sodass Bläschen in ihrem Körper gar nicht erst zum Problem werden konnten.
Trotzdem war es ein eigenartiges Gefühl, einfach hochzuschwimmen, weiter, immer weiter … bis ganz nach oben. Erst ein einziges Mal war Leon von der Station aus zur Oberfläche getaucht, gemeinsam mit Billie und Shola; Ellard hatte sie im Tauchboot begleitet. Diesmal schien es länger zu dauern als damals, wahrscheinlich wegen seines defekten Anzugs, und Leon machte sich Sorgen – wie viel Perfluorcarbon trat aus? Wie lange konnte er überhaupt noch atmen? Sein DivePad zeigte bloß noch Unsinn an.
Endlich nahm er die erste schwache Helligkeit wahr. Kein grünblaues biochemisches Licht, das von einem Tiefseewesen stammte, sondern Licht von oben – durch Meerwasser gefiltertes, echtes Sonnenlicht! Leon schwamm ihm entgegen, bis
Weitere Kostenlose Bücher