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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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auch ohne sein Dazutun in Fahrt; wahrscheinlich hatte er bereits zwei Cocktails intus. »Ich sag’s euch, 90 Prozent der Berliner sind schwul oder lesbisch, und die restlichen 10 Prozent kommen mit ihrem Leben nicht klar.«
    Sosehr Philip sich auch bemühte, seine Ohren auf Durchzug zu schalten, Kens Worte blieben hängen. Er entschied, wohl zur letzteren Gruppe zu gehören.
    »Schau dir doch nur mal die da an.« Ken wies auf vier junge Frauen, die einige Tische weiter angeregt die Köpfe zusammensteckten. »Ich schwör’s dir, die sind garantiert lesbisch!«
    Philip nahm erleichtert zur Kenntnis, dass der Barkeeper eine neue CD in die Stereoanlage schob, woraufhin sich elektronische Beats über den Stimmenwirrwarr im Habana legten und damit auch Kens Eifer dämpften. Es passierte nicht selten, dass Außenstehende seine Bemerkungen als unerhört empfanden, denn der feinfühlige Ken wirkte mit seinen blondierten Haaren, den bevorzugt eng getragenen Shirts sowie seiner affektierten Sprache manchmal selbst ein bisschen wie ein Gay.
    »Es kann gar nicht anders sein, das erkenne ich an ihrer Haltung.«
    »Mensch Ken, piss doch gegen die Wand.« Das Praktische an diesem Spruch – ein Zitat aus Philips Lieblingsfilm Donnie Brasco – war, er ließ sich jederzeit auf so ziemlich alles anwenden.
    Ken blieb unbeeindruckt. Er schien Philip nicht einmal gehört zu haben. »Glaub mir, ich seh das auf einen Blick. Oder guck dir den da an. Guck mal, guck mal, guck mal.« Seine Stimme überschlug sich. Vielleicht lagen sogar schon drei Cocktails hinter ihm. Mit einem Kopfnicken wies er auf einen jungen Mann, der draußen vor der Kneipe mit trüber Miene einen Kinderwagen vor sich her schob. »Der kommt doch garantiert nicht mit seiner Vaterrolle klar, ich sag’s euch.«
    Sabine versenkte ihr Gesicht in den Handflächen, beschämt darauf hoffend, dass niemand sie entdeckte.
    »Bla, bla, bla«, machte Chris und bettete ihren Kopf auf Philips Schulter. Der gab keinen Ton von sich und verrührte mit dem Strohhalm seinen Drink.
    »Leute, ich sag’s euch, Berlin ist die größte Freiluftpsychiatrie der Welt. Ungelogen. Und manchmal laufen zwei, drei Ärzte oder Professoren inkognito rum.«
    »Klar, und du bist natürlich einer der Ärzte, richtig?«, fragte Sabine. Nun fummelte sie an ihrem Nasenring.
    Ken lachte auf. »Iwo, ich bin der größte aller Spinner.« Er fasste sich an die Augenlider und klappte sie empor, während er die Pupillen nach unten fallen ließ. Nur mit dem Weiß seiner Augäpfel sah er sie abwechselnd an.
    »Igitt, du Ekel«, kicherte Sabine, pflückte die Orangenscheibe aus ihrem Cocktail und warf sie auf Ken. Der duckte sich, und knapp verfehlte sie seine Stirn.
    »Seht ihr, hier in Berlin gibt es nur…«
    »HERRGOTT, KANNST DU NICHT EINFACH MAL DIE SCHNAUZE HALTEN?«, explodierte Philip. Alle Blicke in der Bar richteten sich abrupt auf ihn, selbst der Mann draußen mit dem Trolley blieb stehen und bemühte sich angestrengt, einen Blick durch die mannshohe milchige Fensterfront des Habana zu erhaschen.
    Ken sackte in sich zusammen. Kleinlaut fragte er: »Was hast du denn?«
    »Piss die Wand an!«
    Ken sah seine Schwester fragend an, doch sie hob ratlos die Schultern. »Philip«, sagte sie, »möchtest du nach Hause?«
    »Besser ist das.«
    »O Mann!«, empörte sich Ken.
    »Entspann dich!«, warnte Sabine.
    Ken ignorierte sie und rief: »Du bist doch grad erst gekommen!«
    »Und jetzt geh ich wieder. Ganz einfach. Piss die Wand an.«
    Chris und Philip verabschiedeten sich und nahmen die nächste Bahn nach Kreuzberg. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort.
    In seinem Wohnklo legte er chillige Musik ein und entzündete eine Kerze. Die kleine Flamme verlieh dem Raum so etwas wie Behaglichkeit, verbannte Philips Unordnung großzügig in die Schatten. Er raffte die Kleider auf der Schlafcouch zu einem Kissen zusammen und setzte sich neben Chris. Sie entnahm ihrer Handtasche Blättchen, Tabak und ein kleines Piece. Mit geübten Fingern zerbröselte sie den Stoff über dem Tabak, rollte ihn mit dem Blättchen zu einer Tüte, die sie an der Kerze entzündete. Sie nahm einen Zug, reichte Philip den Joint, der zweimal daran zog und tief inhalierte. Das Dope umgarnte seine Lunge mit rauen Händen, es war verdammt gutes Zeug.
    Noch immer schwiegen sie, und er war Chris dankbar dafür. Sie lauschten den sphärischen Bleeps und Clongs aus den Lautsprechern und ließen das Gras auf den Geist einwirken. Das Hasch dehnte

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