Ruf der Toten
ihre Gedanken zu einem breiten Strich am Horizont aus. Philip entspannte sich; er spürte unsichtbare Hände, die seinen Körper ergriffen und emporhoben, als sei er federleicht.
Irgendwann, als sie sicher war, dass der Stoff ihn besänftigt hatte, brach Chris das Schweigen: »Was ist los mit dir?«
»Ich bin stoned.«
»Nein, nicht jetzt. Vorhin, im Habana.«
Philip hätte es schon vergessen.
»Was war da?«
»Es gab keinen Grund, Ken so anzuschnauzen.«
»Ach das. Ich war wütend.«
»Warum warst du wütend?«
Er nahm noch einen Zug von der Tüte. Als Philip weitersprach, hörte es sich so emotionslos an, als lese er ihr die Wetterprognose vor. »Ich glaube, ich habe meinen Job verloren.«
Sie griff nach seiner Hand. »Warum?«
»Wenn ich das wüsste! Es ist…« Sein Geist war wie in einem flauschigen Wattebausch geborgen, durch den er sich einen Weg zurück zu Chris bahnen musste. Ihr Streicheln auf seiner Hand wies ihm die Richtung.
»Ist es wegen der letzten Nacht?«
Er zögerte. Letzte Nacht? »Auch«, antwortete er, als es ihm wieder einfiel.
»Was soll das heißen? Auch?«
Er blieb stumm. Wenn er das bloß wüsste? »Starkes Zeugs«, wich er aus und schwenkte den Joint.
»Hab’s von Ken.«
»Der Soziologe…«
Sie kicherten kurz, bevor sie wieder ernst wurden, und Chris fragte: »Willst du darüber reden?«
Worüber sollte er reden? Über etwas, was er selbst nicht begriff? Was war tatsächlich passiert? Das Pot in seinem Kopf machte alles so irreal. Während er noch überlegte, sprach er schon, und in seinen Ohren klang es nicht nach ihm: »Ich war heute Zeuge eines Mordes.«
»O mein Gott.« Sie hustete, und der Qualm stob zwischen ihren Lippen hervor. Philip erzählte ihr, was er am Nachmittag beobachtet hatte. Es war, als berichte er von einem Film, den er im Kino gesehen hatte, nicht aber von der Wirklichkeit.
Chris sah ihn besorgt an. »Hat der Mann… ich meine, der Mörder, hat er dich gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Glaubst du? Oder weißt du es?«
»Ich weiß es. Er hat mich nicht gesehen. Er war so besessen von seiner Tat, und danach ist er auf und davon.«
»Wie schrecklich.«
»Es ist okay, keine Sorge.«
»Und die Frau?«
Philip zuckte mit den Achseln.
»Was heißt das? Hast du nicht die Polizei verständigt?«
»Ich habe den Mörder fotografiert.«
Chris glaubte, sich verhört zu haben. »Du hast was?«
Langsam wiederholte er und betonte dabei jedes Wort. Ihm war, als gehöre die Stimme einem Fremden. »Ich… habe… ihn… fotografiert.«
»Das ist doch… ist es nicht…«
»Es ist mein Job. Genau das ist es!« Die Worte seines Chefs streiften seinen Verstand, nur kurz, bevor sie sich wieder in den Haschnebel zurückzogen: Zeige nie Mitleid… Fotografen verschenken kein Foto. Ja, es war, verdammt noch mal, sein Job. Und es war, verdammt noch mal, seine Aufgabe, diesen Job gut zu erledigen.
»Trotzdem bist du gefeuert?« Sie blickte ihn irritiert an. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich bin beurlaubt«, korrigierte er. »Naja, eine Beurlaubung ist wohl das Gleiche wie eine Entlassung, wenn ich mich nicht täusche.« Er lächelte freudlos. »Weil auf den Fotos, die ich geschossen habe, nichts zu sehen ist, deswegen. Und weil ich die Fotos, die ich eigentlich auf dem Ku’damm schießen sollte, vergessen habe.« Verbittert presste er die Zähne aufeinander, bis sie knirschten. Von seiner handgreiflichen Auseinandersetzung mit Dehnen wollte er ihr nichts erzählen. Zu peinlich erschien ihm das inzwischen. Wie hatte er sich nur so vergessen können? Es reichte, wenn er sagte: »Ich habe Scheiße gebaut. Richtig große Scheiße!«
»Warum ist auf den Bildern nichts zu sehen?«
»Siehst du, genau das ist mein Problem, deswegen bin ich wütend. Ich weiß nicht, warum auf den Fotos nichts zu sehen ist. Ich weiß nur: Auch wenn man mich beim Kurier manchmal wie einen behandelt, bin ich kein Anfänger mehr. Ich habe meine Kamera draufgehalten, mehrmals sogar. Doch auf den Bildern ist nichts zu sehen. Nein, das stimmt nicht. Es ist schon was zu erkennen: Der Hauseingang in seiner ganzen Pracht. Aber ansonsten…« Er seufzte.
»Nichts!«
Chris beobachtete ihn schweigend. In ihrer Hand glühte der Joint, der langsam zu Asche zerfiel. Sekunden vergingen, sammelten sich zu Minuten. Das Stück auf der CD klang aus. Stille erfüllte das Zimmer, durchbrochen von einem Martinshorn; wahrscheinlich jagte die Polizei irgendwelchen Verbrechern am Kottbusser Damm
Weitere Kostenlose Bücher