Ruf der Toten
Von irgendwo kam der Duft ihres Parfüms und übertünchte den septischen Gestank des Krankenhauses.
»Bea?«, fragte er.
Sein Bruder nahm ihn in den Arm. »Ist schon gut«, sagte er. »Ist schon gut.«
Vor den Fensterscheiben draußen war die Welt grau. Im Sommer sah Hampstead aus wie eine Spielzeugstadt, eine Modellsiedlung im Norden von London mit ihrem eigenen Leben: edel, geschmackvoll, voller Blumen, voller Klasse, traditionsreich, modern, lebhaft, entspannt… Jetzt wirkte Hampstead wie eine Geisterstadt.
Der Rufmelder, der an Doktor Martensens Gürtel befestigt war, gab ein Signal. Der Arzt warf einen Blick auf das Display und erhob sich. »Tut mir Leid«, sagte er. »Die Pflicht ruft.«
»Schon in Ordnung«, meinte Bart. »Wir kommen klar.«
»Wenn wir Ihnen helfen können, sagen Sie uns bitte Bescheid.« Er wies auf Schwester Linda, die an dem Tisch in der Mitte des Raumes saß und ihr rostrotes Haar unter der Klinikhaube zurechtrückte.
Paul entsann sich, er hatte vor wenigen Stunden schon einmal ein Angebot dieser Art erhalten. Aber die traurige Wahrheit war: Ärzte wie Pfleger hatten nicht helfen können. Bea war jetzt tot. Tot! Ein Wort. Drei Buchstaben. So kurz. Beinahe wie das Leben seiner Verlobten. Ein Atemzug.
Sein Kinn sank auf die Brust, und die Trauer rann endlich seine Wangen hinab, spülte Erinnerungen hervor. Bea hantierte in der Küche ihrer gemeinsamen Wohnung und trug dabei die abgewetzte Jeans, die sie heiß und innig liebte. Sie spazierte durch den Hampstead Heath und die Sonne liebkoste die Haut, die sich unter seinen Händen zart und weich anfühlen würde. Sie lag auf dem Zimmer 313 der Intensivstation, und Schläuche bohrten sich in ihre Nase und den Mund, während die Apparate surrten und blinkten. Auch dies gehörte jetzt zu der Erinnerung an sie, die er in sich speicherte.
Kurz bevor Martensen durch den Korridor von dannen eilte, sah Paul noch einmal auf und sagte tränenerstickt: »Ich möchte meine Verlobte sehen. Doktor, ich möchte Bea noch einmal sehen. Ein letztes Mal.«
»Paul, bist du dir sicher, dass…« Bart verstummte, als er den entschiedenen Blick seines Bruders bemerkte.
Paul holte Luft, und seine Stimme fing sich: »Und ich möchte sie ohne Instrumente, Apparate und Schläuche sehen. Ich möchte sie einfach nur als Mensch in Erinnerung behalten.«
Der Arzt blickte fragend zur Schwester. Diese senkte ihre Augenlider zustimmend. »Wenn das Ihr Wunsch ist«, sagte Martensen, »dann soll es so sein.«
Berlin
Als Philip am Abend in das Stimmengemurmel des Habana tauchte, befand sich seine Laune auf dem absoluten Tiefpunkt. In dieser Verfassung verspürte er nur wenig Lust auf Konversation und noch weniger auf eine Unterhaltung über gestrandete Existenzen in Berlin. Doch Ken, der sich mit Sabine und Chris bereits in einer der schummrigen Kneipenecken über diverse Cocktails hermachte, schien Philips missmutige Miene erst recht als Aufforderung zum soziologischen Diskurs zu verstehen. »Hey, Philip, ich seh’s dir an, dich nervt Berlin, oder? Also mich nervt es auch ganz gewaltig.«
Philip schenkte ihm keine Beachtung, ließ sich neben seiner Freundin nieder und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Eine feindselig dreinblickende Kellnerin – spindeldürr und mit einem Potthaarschnitt – nahm seine Bestellung auf und brachte ihm einen Hemingway Sour, eine Mischung aus Gin, Limone und einem Schuss Kirschsaft, genau das Richtige für den Augenblick.
»Warum wohnst du denn dann noch in Berlin?«, tat Sabine interessiert, während sie ihr Augenbrauenpiercing zurechtzupfte.
Ken verdrehte die Augen. »Weil ich hier studiere, Dummerchen.«
»Das tun wir auch«, betonte Chris.
»Aber nicht Soziologie, das Fach mit dem Nervfaktor Nummer 1.«
»Warum studierst du es dann?«
»Soll ich etwa Kunst studieren wie ihr? Pah!«
»Du meinst also, du wärst was Besseres als wir?«, fragte Chris.
Ken setzte zur Antwort an, doch Philip murrte dazwischen: »Ken, wir wissen es.« So sehr er seinen Kumpel mochte, manchmal konnte er einem mit seiner ständigen Wehleiderei – eine Angewohnheit aller Soziologiestudenten, wie es schien – gehörig auf den Sack gehen.
Ken strich sich sein blondes Studentenhaar aus der Stirn und meinte: »Meine Güte, wenn es aber nun mal so ist. In Berlin gibt es nur Durchgeknallte und Bekloppte.«
Philip hätte das gern bestätigt, gerade heute, allerdings wollte er Ken nicht noch weiter anstacheln, redete der sich doch
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