Ruf der Toten
seien ihre Handgriffe reine Willkür.
»Was machen Sie da?«, fragte Paul. »Was hat der Alarm zu bedeuten?«
»Solche Alarmzeichen sind kein Grund zur Besorgnis«, wiegelte die Schwester ab. »Oft kommen Fehlalarme vor, weil die Überwachungsgeräte vorsichtshalber sehr empfindlich eingestellt sind. Also regen Sie sich nicht auf.« Ihre Stimme zitterte und strafte ihre Worte Lügen. »Jetzt gehen Sie zur Seite.«
Doch er hatte nicht vor, das Feld zu räumen. Er wollte sehen, was geschah. Er wollte bei Bea sein und ihr helfen.
Ein hoch gewachsener Mann mit Vollbart und wehendem, weißen Kittel kam schnellen Schrittes um die Ecke, zwei weitere Pflegerinnen im Schlepptau.
»Doktor Martensen!«, rief Paul erleichtert. In den zurückliegenden Stunden waren ihm reichlich Ärzte des Hampstead Medical High über den Weg gelaufen. Viele davon waren snobistische Schnösel, die ihren Status als Halbgötter in Weiß wie einen Bauchladen vor sich hertrugen, obwohl auch sie dem Zustand seiner Freundin sein Geheimnis nicht zu entlocken wussten. Dr. Martensen schien noch recht jung zu sein, doch er wirkte besonnen und verständnisvoll. Bea in seiner Obhut zu wissen, milderte Pauls Panik ein wenig.
Allerdings war der Geräuschpegel auf der Intensivstation nach wie vor unerträglich laut.
»Schwester Roberta, stellen Sie den Alarm ab«, schrie der Arzt.
Roberta, die junge Schwester, hastete zu den Geräten und fand den Abstellknopf. Augenblicklich trat Stille ein, nur noch durchschnitten vom monotonen Pfeifen der Herzstromkurve. Paul wusste, was das bedeutete; seine Kehle war wie zugeschnürt.
Martensen ließ sich nicht beirren. Routiniert und ohne zu zögern ging er zur Sache, während er sich mit den Krankenschwestern beratschlagte.
»Beatmung«, wies er an, und Roberta, die jüngste der Schwestern, stülpte die Maske des Beatmungsbeutels über Beas Mund und Nase, während die anderen beiden Pflegerinnen die Bettdecke von ihr zogen und den Pyjama entfernten. Obwohl Paul der Anblick seiner nackten Freundin vertraut war: Sie entkleidet, hilflos und blass mit geschorenem Schädel dort liegen zu sehen, krampfte seinen Magen zusammen. Wo war das Leuchten auf ihren Wangen? Wo die Bräune ihrer Haut?
Schwester Roberta begann, Luft in die reglosen Lungen zu pumpen. Mit den Handballen massierte der Arzt rhythmisch das Brustbein. Während des Wiederbelebungsversuchs wechselten sie kein Wort. Martensen spritzte Adrenalin in Beas Herzmuskel und drückte seinen Handballen erneut auf ihren Brustkorb.
Anfangs schien alles nach Plan zu verlaufen, sofern es für eine solche Situation überhaupt einen Plan gab. Aber der Arzt erweckte den Anschein, als wüsste er genau, was er tat – und könnte den Erfolg seiner Bemühungen bereits absehen.
Als das gleichförmige Signal allerdings nicht abebbte, sondern weiter aus den kleinen klirrenden Lautsprechern heulte, brach Chaos aus. Über den nackten regungslosen Leib seiner Freundin hinweg erteilte Martensen fieberhaft Befehle, die Schwestern reagierten in einem Durcheinander, das dennoch einer genau festgelegten Routine folgte.
»Was ist mit meiner Verlobten?« Besorgt trat Paul an das Bett heran. »Was hat das alles zu bedeuten?«
Martensen sah ihn überrascht an, auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. »Mister Griscom, was machen Sie denn noch hier? Bitte lassen Sie uns alleine.« Er gab einer der Pflegerinnen ein Zeichen: »Kümmern Sie sich um ihn.«
Die Schwester nahm Paul in den Arm, und er stellte fest, es war die kleine, pummelige Linda, die ihn sanft, aber bestimmt aus dem Zimmer bugsierte. Weg von Bea. Aber er konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht jetzt. »Nein, nicht!«, widersetzte er sich und wollte sich der Schwester entwinden.
»Mister Griscom, bitte kommen Sie«, mahnte Linda und ihr Griff verstärkte sich. »Vertrauen Sie uns.« Sie fügte hinzu: »Alles wird wieder gut.«
Paul stöhnte. Gar nichts wird wieder gut. War sie blind? Wusste sie nicht, was dieser monotone Faden auf dem Monitor zu bedeuten hatte? Natürlich wusste sie es, wozu war sie sonst Krankenschwester. Selbst er, der seine medizinischen Fachkenntnisse ausschließlich aus Fernsehserien wie Emergency Room bezog, kannte die Bedeutung. Wie zur Bestätigung hörte er Martensen sagen: »Reanimation!«
Dieses schlichte Wort riss Paul die Beine unter dem Körper weg. Es zu denken, war das eine. Es aus dem Mund des Doktors zu hören, war etwas anderes. Es machte die Situation real – und schrecklich
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