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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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auf ihren glühenden Körpern trocknen. Durch die Balkontür lugte die gerade erst erwachende Kreuzberger Nacht. Es war kurz nach 22 Uhr an einem Wochentag, kaum eine späte Stunde in einer Stadt wie Berlin.
    »Du denkst nicht gerne an den Tod, oder?«
    Philip sah seine Freundin an. Im Halbdunkel des Raumes war nur ihre Silhouette zu erkennen. »Nicht unbedingt ein Thema, über das man nach dem Sex redet…«
    Sie zuckte mit den Achseln. »Genauso gut wie jedes andere Thema.«
    »Wie kommst du darauf?«
    Sie legte ihre Hand auf seine Brust und zupfte an den Haaren, die um die Warzen sprossen. »Weißt du, es ist nur seltsam. Heute Morgen, auf dem Parkplatz vor dem Tresor, da hast du Angst gehabt. Panische Angst. Du hast irgendwas von einem Feuer erzählt und von Flammen, in denen du sterben würdest.«
    Er dachte nach. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
    Ihr Atem streifte seine Haut. Die Scheinwerfer eines Autos wanderten durch das Zimmer. Für einen Augenblick konnte Philip ihre Augen sehen, blau und klar. Dann verschluckte die Nacht sie wieder.
    »Es war ein schlimmer Trip, oder?«
    Es hatte wohl wenig Sinn, länger zu leugnen.
    »Hat es mit deinen Eltern zu tun?«
    Er verkrampfte sich. Sie raffte die Decke, trotzdem breitete sich eine Gänsehaut auf seinem Körper aus. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was weiß ich.« Es klang gereizter als beabsichtigt. »Tut mir Leid.«
    »Ist schon gut«, sagte sie sanft und schmiegte sich näher an ihn heran. Ihre Finger fuhren sein Becken entlang und fanden die Narbe, die er dort seit seiner Kindheit trug. Vorsichtig, als könne sie jede Sekunde neu aufbrechen, streichelte sie die spröde Hauterhebung. »Ist schon gut.«
    Aber das war es nicht. Und sie wusste es. Er hatte ihr nicht viel erzählt über sich und seine Familie, nur, dass seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er danach in einem Kinderheim aufgewachsen war. Ein neues Stück floss aus den Boxen. Helle Glöckchen erklangen in einem eigenwilligen Takt, fast wie das unförmige Advents-Plingplingpling, mit dem die Kaufhäuser sich zurzeit gegenseitig zu überbieten versuchten.
    »Weißt du, warum ich Weihnachten hasse?«, fragte er.
    Sie wusste es nicht.
    »Weil es mir fremd ist.«
    Chris überlegte, ob sie nachhaken sollte. Es kam nicht häufig vor, dass er über seine Kindheit erzählte, und sie hatte ihn nie dazu gedrängt. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, als wolle er jetzt gefragt werden. »Was meinst du damit? Habt ihr im Heim kein Weihnachten gefeiert?«
    »Nein, das nicht. In dem Heim, in dem ich aufgewachsen bin, bekamen wir Kinder alles, was auch anderen Kindern draußen bei ihren Eltern an so einem Tag wichtig war. Wir haben jedes Jahr einen Weihnachtsbaum geschmückt, gemeinsam Lieder gesungen und an Heiligabend eine Bescherung abgehalten. Nur eines hatten wir nicht: eine Familie, die sich zur Bescherung unter dem Weihnachtsbaum versammelt. Nicht weil es sich so gehört, sondern weil sie wirklich Freude daran empfindet. Freude daran, sich mit Geschenken zu überraschen, das Strahlen im Gesicht der anderen zu beobachten.«
    Chris lauschte in der Dunkelheit aufmerksam seinen Worten.
    »Die anderen Kinder im Heim ersetzen keine Familie. Mag sein, dass es auch anders sein kann. Bei mir im Heim galt das Recht des Stärkeren – auch an Weihnachten. Gerade an Weihnachten. Ich war das jüngste Kind. Aber ich war nicht das Nesthäkchen, ich war das Opferlamm. Und meine Geschenke zu Weihnachten waren am Morgen Sand auf meinem Frühstücksbrot und am Abend Spinnen unter der Bettdecke. Ich habe mich vor diesen Viechern gefürchtet, hatte schreckliche Angst, doch die Jungs lachten nur, auch die Betreuer, die nichts dagegen unternahmen, sondern erklärten: Junge, das war doch nur ein Scherz. Ach so, ein Scherz also? Ich finde, derartige Späße tragen nicht unbedingt dazu bei, dass man als kleiner Junge das Weihnachtsfest zu schätzen lernt.«
    »Dabei ist es geblieben?«
    »Dabei ist es geblieben«, wiederholte er.
    »Und was ist mit deinem Vater?«
    Philip grunzte verächtlich. »Was soll mit ihm sein?«
    »Du hast nie von ihm erzählt.«
    »Es gab keinen Grund.«
    »Wieso hast du nicht bei ihm gelebt?«
    »Es gab eine Zeit, da hätte ich das gerne.« Bitterkeit sprach aus seinen Worten. »Allerdings habe ich erst mit dreizehn Jahren erfahren, wer mein Vater ist. Ich beschloss daraufhin, ihn zu treffen. Es war mir wichtig; wochenlang habe ich mir unsere erste Begegnung ausgemalt.

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