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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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endgültig. Reanimation! Wenn George Clooney auf der Mattscheibe davon sprach, bedeutete das, es wurde ernst. Todernst. »Nein!«, brüllte Paul. »Bitte… nicht!«
    Linda zerrte ihn aus dem Zimmer. Paul sträubte sich, und mit schreckgeweiteten Augen bekam er mit, wie Martensen zwei großflächige Elektroden von einem Rollcontainer voller Instrumente nahm. »Zweihundert«, sagte er und drückte die Paddel auf Beas Brustkorb. »Und jetzt!«
    Der Strom fuhr in sie. Ihr zarter Körper bäumte sich auf, bevor er wie ein schlaffer Sack zurück auf die Matratze fiel. Ihr Kopf rollte zur Seite. Ihre Augen standen offen und ihr leerer Blick fiel auf Paul. Alles Leben war gewichen, der letzte Rest mit 200 Joule aus ihr getrieben.
    Der Anblick war zu viel. Pauls Beine gaben unter ihm nach. »Bea!«, schluchzte er, als er fiel.
    »Schwester, sorgen Sie dafür, dass er endlich das Zimmer verlässt!«, schnauzte Martensen. »Und geben Sie ihm eine Beruhigungsspritze!« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und trocknete die Handflächen an seinem weißen Kittel, bevor er die Elektroden erneut auf Beas Brustbein presste. »Adrenalin?«, fragte er. Eine der Schwestern bestätigte.
    »Und zweihundert!«, forderte Martensen. Das Geräusch pulsierenden Stroms erfüllte das Zimmer, knisternd und zischelnd, der leibhaftige Tod, der mit raschelnder Kutte vor der Tür stand. Paul mochte nicht hinhören, auch nicht hinsehen, nicht noch einmal den toten Augäpfeln seiner Verlobten begegnen. Doch gleichzeitig konnte er das Zimmer nicht verlassen, das war, als würde er in ihrer schlimmsten Stunde von ihr fortgehen, seine Liebe aufkündigen, seinen unausgesprochenen Treueschwur brechen.
    »Mister Griscom, bitte kommen Sie mit«, flehte Schwester Linda, aber ihre Stimme erreichte ihn nicht. Die Flatline kroch in sein Ohr, bohrte sich in seinen Schädel und ließ sich dort nie wieder entfernen. Das endlose Fiepen würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten und ihn jeden Tag, jede Stunde, jede Minute an den Verlust erinnern.
    Er bekam kaum mehr mit, was um ihn herum passierte, wie lange er schluchzend am Boden kniete und wie viele heiße Tränen er in seine Handflächen vergoss. Er verlor jedes Zeitgefühl. Wahrscheinlich ging gerade sein Verstand flöten. Das war ihm ganz recht, glückselige Amnesie, die ihn den Schmerz vergessen ließ. Aber auch Bea würde er dann vergessen. Er stöhnte auf. Er wollte sie nicht vergessen. Er wollte sie nicht verlieren. Eine Spritze bohrte sich in seinen Arm, und irgendwann kehrte endlich Ruhe ein.
     
     
    Paul lag auf einer Pritsche im Schwesternzimmer, und neben ihm hockte Bart, der ihm die Hand tätschelte. Er hielt seine Augen geschlossen, und Paul entdeckte eine Träne, die einsam und verloren die Wange hinabrann. Sein Bruder, der irische Bär, weinte.
    Paul spürte eine Berührung am anderen Arm.
    Dr. Martensen beugte sich über ihn und prüfte seinen Puls. Obwohl Martensen erst Mitte dreißig war, sprossen erste graue Haare aus seinem Bart hervor, der Tribut, den der Schichtdienst ihm abverlangte.
    »Doktor«, sagte Paul. Seine Zunge klebte träge und schwer am Gaumen. Er dehnte die Worte. »Was ist…?«
    Seine Stimme brach, als der Arzt den Kopf schüttelte. »Es tut mir Leid«, sagte Martensen. In Pauls Ohren klang es wie eine Floskel, die man den Ärzten während des Medizinstudiums eintrichterte. Vielleicht war es das Erste, was man als angehender Arzt im Referendarium lernte: den Angehörigen das Beileid aussprechen.
    »Es tut mir Leid«, wiederholte Martensen, als würde die Wahrheit, die hinter den Worten lauerte, an Schrecken verlieren, wenn man sie mehrmals aussprach.
    Paul mochte diese Wahrheit nicht akzeptieren. Im Grunde seines Herzens gab er die Hoffnung nicht auf. Selbst jetzt, wo Bart ihm seine fleischigen Finger auf die Schulter legte und sagte: »Ich bin bei dir.« Selbst jetzt glaubte Paul fest daran, dass Bea überlebte. Dass sie wieder aufwachte und sich alles nur als ein großer Irrtum herausstellte, eine Lappalie, die passieren konnte; nichts wirklich Besorgnis erregendes.
    Paul erwiderte nichts. Er brauchte kein Mitgefühl, auch kein Beileid. Er wollte nur hören, dass es sich um einen Scherz handelte, einen dummen, makabren Scherz. Und dass Bea daheim auf ihn warten würde, in ihrer alten Jeans, dem ausgewaschenen T-Shirt, mit ihrem neckischen Grinsen und einem Teller ihres wunderbaren Abendessens.
    Er rappelte sich auf, weil er glaubte, Beas Stimme gehört zu haben.

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