Ruf der Toten
seinen Kopf zurückziehen, doch ihre Finger waren schneller. Fest umschlossen sie seinen Nacken und zogen sein Gesicht hinab zu ihrem. Seine Angst verwandelte sich in Entsetzen. Was hatte sie mit ihm vor? Er versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden, doch ihre Finger umschlossen ihn wie Stahlschellen, keine Chance auf ein Entkommen. Woher nahm der sterbende Körper bloß auf einmal diese Kraft? Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick auf sie. Ihr Mund war blutverschmiert, er näherte sich unaufhaltsam seinem Ohr. Sie sagte etwas. Es klang wie: »Philip, was redest du für einen Schwachsinn?« Es war die Stimme von Chris, die ihn weckte. Er wollte protestieren; warum ließ sie ihn nicht lauschen? Er musste wissen, was die Frau ihm zu sagen hatte. Langsam realisierte er, dass es sich nur um eine Gestalt in einem Traum handelte, nur ein Traum, der sich der natürlichen Ordnung dieser Welt widersetzte. Aber so waren Träume nun einmal. Er seufzte erleichtert, wandte sich um und wollte weiterschlafen. Chris war bereits wieder entschlummert.
Aber ihm gelang das nicht. Noch lange lag er wach, überlegte, was es mit dem Traum auf sich hatte, ohne dass er dahinterkam. Es konnte doch kein Zufall sein, dass er von der Frau und dem Mord träumte, einer Situation, die es nicht wirklich gegeben hatte, nur ein Hirngespinst, ein Produkt seiner übersteigerten Fantasie, beflügelt durch die Drogen. Aber wenn es kein Zufall war, was dann? Es wollte ihm nicht einfallen. Er ärgerte sich über sich selbst. Es war ein Traum, sonst nichts. Der ihm nichtsdestotrotz Angst eingejagt hatte; er konnte es nicht leugnen. Er schob sich zu Chris hinüber, presste sich an ihren nackten warmen Leib und fürchtete sich davor, die Augen zu schließen. Irgendwann aber war er so müde, dass die Lider von selbst zufielen, und er schlief ein.
Trujillo
Unter der Lehmbrücke am Dorfeingang hindurch quälte sich träge ein schlammiger Fluss. Er schmiegte sich um den halben Ort wie ein Gürtel, nur um dann festzustellen, dass auch auf der anderen Seite der Ansiedlung nicht viel Wirbel auf ihn wartete. Er beschrieb einen weiten Bogen und verlor sich in das Nirgendwo der Steppe. Es hatte den Anschein, als leide selbst das Wasser unter der stickigen Hitze und könnte sich nur langsam vorwärts bewegen.
Ein Taxi rumpelte über die Brücke. Es ließ das verblasste Ortsschild hinter sich, während es den Sand der Straße aufwirbelte. Asphalt war in diesem Landstrich offenbar noch nicht bis zu den Straßenbaumeistern vorgedrungen. Wozu auch, die meisten der Menschen, die hier lebten, fuhren selbst nur Trecker oder Fahrräder.
Einige hundert Meter hinter dem Ortsschild erreichte der Wagen das Dorfzentrum. Der Passagier im Fond erkannte mit einen Blick: Trujillo war ein Nest. Staubige Straßen, ein trockener Wind, der um die wenigen Häuser piff, ohne etwas gegen die sengende Sonne ausrichten zu können. In der Ortsmitte erhob sich ein Kirchturm, Überbleibsel der spanischen Konquistadoren, weiße Mörtelarchitektur, die inmitten der Elendshütten wie eine strahlende Bastion gegen die um sich greifende Armut wirkte.
Das Taxi hielt vor der Kapelle, und der Mann auf dem Rücksitz beeilte sich, dem stickigen Fond zu entkommen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm seine Tasche aus dem Kofferraum, bezahlte die Fahrt, und während der Wagen in einer Staubwolke davonbrauste, dankte er Gott, dass dieser in seiner Gnade die letzten anderthalb Stunden der Fahrt davon abgesehen hatte, ihn in der rollenden Blechkiste zu rösten. Wahrscheinlich war es ebenfalls Gott zu verdanken, dass er unterwegs nicht verdurstet war, oder auch den Kaugummis, auf denen seine Zähne unentwegt mahlten.
»Sie müssen Cato sein«, hörte er eine Stimme, und er drehte sich um. Ein kleiner aufgedunsener Mann im faltigen Rock eilte wie ein emsiges Frettchen vom Kirchenportal die Stufen zum Vorplatz herab. »Ich bin Andrej Comistadore, der Pfarrer dieser kleinen Gemeinde.« Er blieb vor Cato stehen, musterte ihn und fragte: »Ist Ihnen heiß?«
Cato glaubte, sich verhört zu haben. Er schob den Kaugummi mit der Zunge von einer Backe in die andere, ohne den Mann, der ihm zur Begrüßung die Hand reichte, einer Antwort zu würdigen.
Ist Ihnen heiß? Die Frage kreiste in seinem Kopf wie eine Fliege umher, die einen großen Misthaufen entdeckt hatte und sich davon nicht mehr verscheuchen ließ. Eine dämlichere Frage konnte man unmöglich stellen.
Natürlich war ihm heiß. Er
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