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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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geringschätzig durch die Luft. »Nichts aber. In der Stadt ist’s gefährlich für ein Mädchen.« Er hängte ihr seinen Mantel über die Schultern. »Brauchst es warm.« Aus seinem Einkaufswagen pflückte er einen größeren Stofffetzen, der sich als löchriger Mantel entpuppte. Elonard hatte gelernt, auf seine Weise auf der Straße zu überleben.
    »Okay«, stimmte sie zu. Sie konnte nicht leugnen, dass das Gefühl, ihn in ihrem gegenwärtigen Zustand an ihrer Seite zu wissen, alles andere als unangenehm war.
    Zahnlos grinste er und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Schläfe. »Elmi wird dir helfen. Helfen, dich zu erinnern. Morgen früh.«

Berlin
     
     
     
    Philip fand sich auf dem Ku’damm wieder, ohne zu wissen, warum. Hatte er nicht gerade noch auf dem Balkon seiner kleinen Wohnung in Kreuzberg gestanden? Und überhaupt, wie war er hierher gelangt? Vermutlich mit der S- oder U-Bahn, wie sonst?
    Weil es zu schneien begann, setzte er sich in Bewegung und schlenderte die einstige Berliner Prachtmeile entlang. Er erfreute sich an den Schneeflocken, die herabrieselten, auf seiner Nase landeten, ihn kitzelten. Er nieste.
    Die Läden links und rechts der Straße funkelten in ihrer vorweihnachtlichen Pracht. Ihm fiel auf, dass in diesem Jahr die Farbe Rot die Lichterketten, Lampions und Kerzen dominierte. Ein tiefes, sattes Rot, das ihn an etwas erinnerte, ohne dass er wusste, woran. Zumindest konnte es nichts Unangenehmes sein, denn obwohl er Weihnachten nicht sonderlich mochte, fand er Gefallen an diesem Farbenglanz. Vielleicht hätte ihm das ein Zeichen sein müssen – Weihnachtsdekoration, die ihm gefiel? Unmöglich!
    Doch da wurde er bereits abgelenkt. In einem Schaufenster entdeckte er nämlich eine Puppe, die inmitten von Samtdecken hockte und verführerische Unterwäsche präsentierte. Fasziniert blieb er davor stehen. Er mochte es, wenn Chris raffinierte Strings und mit Spitzen besetzte BHs trug. Er versuchte sich vorzustellen, wie der dünne Stoff mit ihrer Haut harmonieren würde. Seltsamerweise wollte ihm das nicht gelingen. Er konzentrierte sich, und die Schaufensterpuppe wurde lebendig. Doch es war nicht Chris, die ihn mit der Unterwäsche am Leib lasziv anlächelte, und es war auch kein Schaufenster mehr, vor dem er stand. Er stand in einem marmornen Hauseingang, vor ihm kniete eine Frau, nackt bis auf ihren Slip und einen BH.
    Philip erkannte die Situation auf Anhieb wieder. Nur diesmal war der brutale Mörder nicht mehr da. Er hatte bereits das Weite gesucht, sein blutiges Handwerk war erledigt. Die Frau hatte er zurückgelassen wie ein Stück Vieh, unansehnlich und keineswegs mehr verführerisch. Ihr Körper war übersät mit Wunden, die das Messer gerissen hatte, tiefe Krater in einer vormals makellosen Haut. Blut floss in einem endlosen Strom aus den Stichen, eine dunkle seimige Flüssigkeit, rot wie… Jetzt fiel ihm ein, woran ihn die Lichterketten in den Geschäften erinnerten.
    Dann stutzte er. Etwas war anders. Er brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, inwiefern sich die Situation von der in seiner Erinnerung abgespeicherten unterschied. Die Frau hier lebte noch. Zwar ging ihr Atem nur noch langsam, aber ihre Brust, oder das, was das Messer davon übrig gelassen hatte, hob und senkte sich, ganz schwach, kaum wahrnehmbar.
    Sie hob den Kopf. Es kostete sie sichtbar Kraft, sie stöhnte unter den Schmerzen. Ihr Blick, getrübt von ihrem eigenen Blut, kreuzte den von Philip. Etwas an ihrer Haltung ließ darauf schließen, dass sie ihn wiedererkannte. Und das steigerte sein Entsetzen nur noch mehr.
    Er ging vor ihr auf die Knie, scherte sich nicht darum, wie das Blut in seine Hose und seine Jacke kroch. Er wollte ihr sagen, wie Leid es ihm tat, dass er ihr nicht hatte helfen können, dass er rücksichtslos und egoistisch nur an seinen eigenen Vorteil gedacht hatte, so wie immer in den letzten Jahren; diese Scheißdrogen, die seinen Verstand betäubten, aber er hatte seine Lehren daraus gezogen, er würde sich bessern. All das wollte er ihr sagen, wollte das Thema ein für allemal abschließen. Doch sie winkte kraftlos ab. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie versuchte zu sprechen, doch er verstand nicht, was sie ihm sagen wollte. Statt Worten sprudelte nur Blut hervor. Er beugte sein Ohr zu ihrem Mund. Er spürte die Wärme, die ihrem Körper entwich. Ratten, die ein sinkendes Schiff verließen.
    Da schnellte ihre Hand hervor. Erschrocken über die jähe Bewegung wollte er

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