Ruf der Toten
Gussa fast sicher, dass es sich um ein selbstzufriedenes Grinsen handelte. »Bischof, Sie unterschätzen meine Fähigkeiten.«
De Gussa winkte unwirsch ab. »Wie auch immer. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Deswegen bin ich hier.«
»Ihre Vorgehensweise bereitet einigen Leuten Sorge. Ich werde viele Fragen beantworten müssen.«
»Wie ich bereits gesagt habe: Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Vorgehensweisen.«
»Sie überschreiten eindeutig Ihre Befugnisse!«
»Ihre besorgten Freunde wollen doch nicht, dass uns jemand zuvorkommt?«
»Aber von Mord war nie die Rede!«
»Anders wäre ich nicht an die Unterlagen gekommen.«
De Gussa presste die Lippen aufeinander. Die Eigenmächtigkeiten, die sich Lacie herausnahm, beunruhigten ihn zutiefst.
»Und? Haben Sie wenigstens Erfolg gehabt?«
Lacie hob die Augenbrauen. »Ich bitte Sie, Bischof! Sie unterschätzen mich erneut.«
»Also haben Sie es?«, fragte de Gussa ungeduldig.
Lacie reichte ihm die flache Hand. Auf der bleichen Haut lag ein Filmstreifen.
»Und?«, fragte de Gussa.
»Es ist nichts zu sehen!«
»Sind Sie sicher?«
»Überzeugen Sie sich selbst!«
De Gussa griff nach dem Negativstreifen und hielt ihn gegen das Licht. In der Tat war nichts darauf zu erkennen, nur eine Glastür und die Marmorverkleidung einer Wand. »Das heißt also«, sagte der Bischof und sah zögernd auf, »der Junge steht noch am Anfang.«
»Es scheint so.« Lacie vergrub seine Hände wieder lässig in den Hosentaschen.
»Sehr gut, das verschafft uns etwas Zeit«, murmelte de Gussa halbwegs besänftigt, doch das ungute Gefühl mochte nicht weichen. Er ließ den Filmstreifen in der Tasche seiner Soutane verschwinden. »Und jetzt zu Ihnen. Hat man Sie gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie glauben?«
»Sie haben Recht, Bischof. Glaube ist etwas für die Kirche.« Der Hohn in seinen Worten war unüberhörbar. Es waren nicht einmal seine Methoden, die de Gussa Unbehagen bereiteten. Lacie hatte durchaus Recht, außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen. Doch die Eigenmächtigkeit, mit der er weitreichende Entscheidungen traf, und mehr noch die kaum verhohlene Geringschätzigkeit, mit der er ihm gegenübertrat, hinterließen ein mulmiges Gefühl. Lacie fügte hinzu: »Nein, niemand hat mich gesehen.«
De Gussa wusste nicht, ob er ihm Glauben schenken konnte. In ihm reifte ein Entschluss. »Dennoch glaube ich, dass wir in eine neue Phase eintreten müssen.«
Lacie hob die Augenbrauen.
»Ich denke, das wird nicht notwendig sein. Ich habe alles unter Kontrolle.«
»Genau das glaube ich nicht.«
Lacie funkelte ihn an. »Was soll das heißen?«
»Sie wissen genau, was ich damit sagen will. Ich hoffe für Sie, dass diese unangenehme Sache in Berlin keine negativen Folgen haben wird.«
De Gussa bemerkte, wie sein Gegenüber die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten ballte. »Also, was haben Sie vor?«
»Ich werde Pater Cato einschalten.«
»Cato?«
Lacie hielt den Atem an. Auch wenn er weder der Kongregation, der vatikanischen Zentralbehörde, noch dem engen Kreis des Officiums angehörte, wusste Lacie doch, was es bedeutete, wenn Catos Name fiel. »Sie glauben, die Angelegenheit ist so ernst?«
Der feine Hauch eines Lächelns umspielte de Gussas Lippen, aber es lag kein Humor darin.
»Wie Sie so richtig sagten, Lacie, der Glaube ist Sache der Kirche.«
Lacie verzog keine Miene. »Was werden Ihre Brüder dazu sagen?«
»Sie werden sagen: Cato weiß, was zu tun ist.«
»Sie meinen…«
»Ich meine gar nichts. Ich werde Cato anrufen und ihm mitteilen, dass wir nicht länger warten können. Und ich möchte, dass Sie mit ihm zusammenarbeiten. Erzählen Sie ihm alles, was Sie wissen. Weisen Sie ihn ein.«
»Es ist Ihre Entscheidung«, gab sich Lacie geschlagen, doch irgendwie mochte de Gussa ihm das nicht abnehmen. Waren es die Augen, die ihn aus dem runzeligen Narbengesicht abschätzig musterten?
Die Zweifel des Bischofs an Lacies Loyalität wurden stärker. Vertrat dieser Mann noch die Interessen des Officiums oder spielte er längst sein eigenes Spiel?
Nicht zum ersten Mal bereute es de Gussa, ausgerechnet Lacie vertraut zu haben. Doch jetzt war es zu spät für Bedenken.
London
»Hier hab ich dich gefunden, Paula«, sagte Elonard, und seine spröden Hände wiesen auf eine Gruppe von Tannen rechts von ihm. Die Frage nach dem Ursprung der Tannennadeln unter ihrem Pulli war damit geklärt, nicht
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