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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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klaren Tag konnte man von oben sogar die Hügel der South Downs ausmachen, die noch jenseits der südlichsten Vororte der Stadt lagen.
    Die herumalbernden Kids wurden lauter und sorgten dafür, dass er wieder zurück in die Gegenwart fand. Zuerst sah er den Penner auf der anderen Seite des Teiches, wie er einen Einkaufswagen über den Schotterweg schob. An seiner Seite war eine Frau, die trotz des schweren abgerissenen Mantels, den sie um ihre Schultern trug, nicht so recht zu dem Obdachlosen passen wollte. Weil ihre Haare geschoren waren, erkannte er sie nicht auf Anhieb. Dann kroch ein Prickeln seinen Nacken hinauf. Als sei das Holz unter seinem Po plötzlich brennend heiß, sprang er auf.
    »Beatrice!«, schrie er, und die Köpfe der Jugendlichen ruckten herum.
    Konnte es möglich sein? Er musste sich vergewissern. Er lief los, schubste die Schüler beiseite.
    »Bist du bescheuert!?«, zeterte ein Mädchen.
    »Was fällt dir ein?«, stimmte ein stämmiger Junge ein, der seine Chance gekommen sah, Eindruck bei dem Mädchen zu schinden, und boxte ihm in die Seite. Der Schlag raubte ihm den Atem.
    »Beatrice«, stieß er noch einmal hervor, doch der Ruf ging in dem Tumult der Jugendlichen unter. Noch mehr Arme zerrten an ihm, Tritte trafen seine Beine. Die Schüler umringten ihn, johlten und brüllten, und er verlor die Frau – Beatrice! – endgültig aus den Augen.
    Als die Schüler sich langsam beruhigten und ihm endlich die Sicht auf die andere Seite des Teichs freigaben, war der Landstreicher weg und mit ihm Beatrice. Er schlug einen Arm, der noch immer seine Jacke festhielt, zur Seite, sprintete los und umrundete den Teich im Rekordtempo.
    Als er keuchend auf der anderen Seite ankam, fand er keine Spur des obskuren Pärchens mehr. Verschwunden, weitergegangen auf einem der zahllosen Wege, die durch den Hampstead Heath führten.
    Er fluchte und spürte im gleichen Atemzug, wie die Verzweiflung einer inneren Erregung Platz machte. Es gab keinen Zweifel. Er hatte sie gesehen.
    Von nun an würde er alles daransetzen, um sie zu finden. Wieder zu finden.

Berlin
     
     
     
    Die Tür fiel hinter dem Kommissar ins Schloss. Chris sank aufs Sofa und rang um Fassung. Es dauerte einige Sekunden, bis sie den Schock verdaut hatte, dann stürmte sie ins Schlafzimmer und blieb vor dem Kleiderschrank stehen. Die kupferbewehrten Ecken glänzten matt im Tageslicht, das sich durch die Lamellen stahl. Wer immer diesen Schrank gezimmert hatte, er hatte sicherlich nicht daran gedacht, dass sein Werk einmal derart zweckentfremdet werden würde.
    »Kannst rauskommen«, sagte sie und klopfte gegen das Holz.
    Die schwere Tür schwang auf, die Scharniere protestierten quietschend. Philip zwängte sich hervor. Er trug nur seine Unterhose, in den Händen hielt er den Rest seiner Kleidung.
    »O Mann, das war knapp«, ächzte er. »Und wissen Sie«, imitierte er den Kommissar, »ganz schön eng in Ihrem Schrank.«
    Er lächelte, doch Chris’ Gesicht glich einer starren Maske. »Was, verdammt noch mal, hast du dir dabei gedacht?«
    »Wobei?«
    »Was ist los mit dir?«
    »Was soll sein?«
    »Die Polizei sucht dich!«
    »Ich hab’s mitbekommen.«
    »Als Mörder?«
    »Chris, du glaubst doch nicht wirklich…«
    Ihre Stimme bebte. »Philip, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
    Er schniefte. »Wenn ich das bloß selbst wüsste.«
    »Ich hoffe du bist dir bewusst, dass ich gerade für dich gelogen habe.«
    »Ich weiß. Und dafür danke ich dir.«
    Fassungslos stierte sie ihn an. »Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?«
    »Was denn noch?«
    »Zum Beispiel, was dran ist an der Geschichte, die dieser Berger mir eben erzählt hat?«
    Was sollte er ihr sagen? Dass er Gespenster sah? Lachhaft! Er, der es erlebte, hatte Schwierigkeiten zu glauben, was geschah, wie sollten es ihm da andere abnehmen? Es musste genügen, wenn er sagte: »Chris, ich war Zeuge eines Mordes.«
    »Das hast du mir gesagt. Der auf dem Ku’damm.«
    »Nein, nicht der auf dem Ku’damm.«
    »Welcher denn dann?«
    »Ich habe gesehen, wie Rüdiger ermordet wurde. Ich habe den Mörder gesehen. Aber ich konnte ihn nicht aufhalten.« Als sie schwieg, fügte er hinzu: »Es ging nicht.«
    Sie packte ihn an den Armen. Beinahe glaubte er, sie wollte ihn schütteln, ihn wachrütteln. »Ist das die Wahrheit?«
    »Wenn ich es dir sage!«
    »Und warum schilderst du das nicht der Polizei?«
    »Weil die mir nicht glauben würden.«
    »Warum sollten sie dir nicht glauben?«
    Sein

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