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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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aber die nach ihrer eigenen Herkunft. Ihr schien es, als wollten die Bäume und das Gras ihr etwas zuraunen. Ein Geheimnis lag hier verborgen, doch sie war nicht imstande, es zu greifen. Bleiern und stumpf döste ihr Bewusstsein, vermochte es nicht, sich aus der tiefen Deprimiertheit, die sie seit ihrem Erwachen beherrschte, zu befreien.
    Elmi fuhr fort: »Lagst dort wie ein Baby im Mutterleib und hast geschlafen.«
    Er gab ein schnarchendes Geräusch von sich, das in einem Hustenanfall erstickte.
    »Und dann hast du mich mit deinem Einkaufswagen in die Gasse gebracht.«
    Er tätschelte den Metallwagen, den er vor sich herschob wie einen treuen Gaul. »Ja, in mein kleines Heim. Bescheiden, aber warm.«
    Paula sah sich um. Ganz in der Nähe lag ein Karpfenteich, der mit dem Schilf und den Seerosen im Sommer sicherlich ein lohnendes Motiv für Möchtegernmaler und Kunststudenten abgab. Zweihundert Meter weiter erstreckte sich ein Badesee, um dessen Rand sich vereinzelt Sprungbretter gruppierten. Jetzt gefror die Oberfläche allmählich zu einer großen Eislaufbahn. Am Parkeingang im Süden war ein Bahnhof der British Rail zu erkennen.
    Der Park war voller Bäume. Sie stellte sich vor, wie es sein musste, wenn im Sommer die Bäume blühten und das allgegenwärtige Rauschen des Stadtverkehrs filterten. Wahrscheinlich würden dann Hundehalter, Liebespärchen, Dichter, Wanderer und Einzelgänger die grüne Oase zu schätzen wissen. In den kalten Wintermonaten dagegen wanden sich kahle Baumwipfel in den grauen Himmel, und das Röhren der Automotoren durchdrang ungehindert den Park. Nur selten begegneten ihnen andere Spaziergänger.
    Schon eigentümlich, sie konnte sich das alles bis ins kleinste Detail vorstellen. Möglicherweise waren es Fetzen aus ihrer Erinnerung, aber mit Bestimmtheit vermochte sie das nicht zu sagen. Auch was sie letzte Nacht dort unter den Tannen zu suchen gehabt hatte, bevor Elonard sie bewusstlos gefunden hatte, blieb unter dem düsteren Schleier verborgen, der über ihr Gedächtnis ausgebreitet lag. Ein Teil ihres Lebens war verschwunden, wie ausgelöscht. So sehr sie sich bemühte, es wollte ihr nicht einfallen, wer sie war, woher sie kam, was sie hier machte. Nur der Gedanke an ihre Mutter – Mama – hielt sich hartnäckig über dem Schleier, auch wenn sie nicht verstand, warum.
    Elonard wartete gespannt neben ihr. Der Dezemberfrost grub sich in sein Gesicht, würde neue tiefe Kerben in seine Wangen treiben.
    »Ich kann mich nicht erinnern«, bedauerte sie.
    Er verzog die spröden Lippen und wirkte unglaublich traurig.
    »Müssen wir eben weitersuchen.«
    Treuherzig schaute er sie unter seinen zersausten grauen Haaren hervor an und wirkte dabei in den schlotternden Kleidern und dem löchrigen Pelzmantel so rührend, dass sie dem Impuls zu lachen nicht widerstehen konnte.
    »Lachst mich aus, wa?« Elonard tat beleidigt.
    »Nein, ich lache dich nicht aus. Ich finde es wunderbar, wie du dich um mich sorgst.«
    »Muss ja einer tun«, meinte er und zeigte sein zahnloses Grinsen. Er trabte los, den Einkaufswagen über den Schotter vor sich herschiebend.
    »Was hast du vor?«, fragte sie und musste fast schreien, um das Rattern der Räder zu übertönen.
    »Weitersuchen«, brummte er. »Muss doch einen Grund haben, weshalb du hier gewesen bist. Also suchen wir. Müssen dich wiederfinden.«
    Sie setzte sich in Bewegung und beeilte sich, ihn einzuholen. Er hatte Recht; es musste einen Grund dafür geben, dass sie mitten in der Nacht hier im Park gewesen war.
    Stimmen überlagerten das Scheppern des Einkaufswagens, und sie glaubte, in dem Durcheinander einen Namen – ihren Namen? – vernommen zu haben. Sie drehte sich noch einmal um. Aber da war niemand außer einigen College-Schülern in schnieken Uniformen, die auf der anderen Seite des Karpfenteichs alles andere als piekfein in Streit geraten waren. Für einen Moment verfolgte sie das aufgebrachte Durcheinander, das Gebrülle und Gezerre und dachte an die Kinder, deren Prozession sie heute Morgen zu sehen geglaubt hatte.
    »Was is?«, rief Elmi. »Kommst du?«
    Ihr Blick wurde von einem georgianischen Gebäude angezogen, dessen imposantes basilikales Dach sich fast über die ganze Parkbreite hinter den Bäumen erhob. Sie verspürte ein eisiges Frösteln, das nichts mit der Kälte zu tun hatte. »Was ist das?«
    Elmi kniff unwillig die Lippen zusammen. »Ist das Hospital. Elmi mag keine Krankenhäuser.«
    »Weshalb nicht?«
    »Weiß nicht.«
    »Du

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