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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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weißt nicht, warum du kein Krankenhaus magst?«
    Er hielt abrupt an und klopfte sich an den Schädel. »Ist manchmal besser, wenn man sich nicht erinnern kann.«
    Sie sah ihn an und entdeckte die große Enttäuschung, die das Leben in aberdutzenden Falten und Narben in sein Gesicht gegraben hatte. Es musste eine Zeit gegeben haben, da er ein stolzer und schöner Mann gewesen war. Sie fragte sich, was er wohl erlebt haben mochte, das so schrecklich war, dass er entschieden hatte, es aus seinem Gedächtnis zu verdrängen.
    »Es ist absurd«, sagte sie leise. »Ich gäbe alles dafür, mich erinnern zu können – und du hast alles gegeben, damit du vergessen kannst.«
    »Absurd«, wiederholte er nachdenklich, bevor ein neuer Hustenanfall ihn verstummen ließ. Er keuchte, spuckte Schleim auf die Wiese. Dann zuckte er mit den Achseln. »Komm weiter. Ist immer besser. Weitergehen, nicht zurücksehen.«
    Nachdem er ihr damit seine Lebensphilosophie kundgetan hatte, umfassten seine Hände wieder den Einkaufswagen, und schneidig wie ein russischer General schlug er den nächstbesten Weg in den Park ein. Plötzlich hatte er es sehr eilig, fortzukommen.
    Paula sah noch einmal hinüber zu dem Gebäude jenseits des Parks. Der Anblick, wie das Krankenhaus über die Baumwipfel aufragte, war noch immer beeindruckend, aber mehr empfand sie diesmal nicht. Es war wohl doch nur die Kälte gewesen, die sie vorhin hatte frösteln lassen.
     
     
    Vor der Wirklichkeit kann man seine Augen verschließen, aber nicht vor der Erinnerung. Die Worte geisterten fortwährend durch seinen Kopf, als Paul die Willow Road zum Hampstead Heath überquerte. Die Winterluft schimmerte matt über dem Asphalt. Sie mischte sich mit den Auspuffgasen, die laute chromblitzende Autos durcheinander wirbelten, bevor der Wind sie zu Eiswolken gefror.
    Der Park war im Sommer eine große und wunderschöne Oase, eine der Hauptattraktionen des Viertels und ein Ort, wo man den Trubel der Stadt hinter sich lassen konnte. Ungezählt die Tage, die er abends mit Bea hier hatte ausklingen lassen. Erfolglos versuchte er sich einzureden, zufällig und ohne ein bestimmtes Ziel diesen Weg eingeschlagen zu haben.
    Er vergrub die Hände tief in den Manteltaschen, als er am Karpfenteich anlangte. Obwohl das Holz von einer feinen Eisschicht überzogen war, ließ er sich auf der Bank nieder und hing wehmütig seinen Erinnerungen nach. Er musste seine Gedanken sortieren. Nur so konnte er begreifen, was geschehen war.
    Eine Horde Teenager riss ihn aus seinen Überlegungen. Die Mädchen und Jungs waren dick eingepackt in ihre College-Uniformen und schnatterten wild durcheinander, als gälte es, den Winter auf diese Weise zu vertreiben.
    Unwillkürlich dachte er an seine eigene Jugend, die er ebenso unbeschwert verlebt hatte, wie es diese Jugendlichen taten. Natürlich war die Kindheit auch geprägt vom elterlichen Geschäft im Hotel gewesen. Schon früh hatte er lernen müssen, an der Rezeption oder in der Küche auszuhelfen, aber das hatte ihm nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil, er hatte diese Aufgaben als eine Chance begriffen, sich an den praktischen Seiten des Lebens zu schulen und sich rasch als wahres Organisationstalent erwiesen. Wahrscheinlich waren seine Eltern deshalb bereit, ihm und seinem Bruder ›The North Side‹ in naher Zukunft zu überlassen – und natürlich Beatrice.
    Sie hatte er mit 18 kennen gelernt, kaum dass er die Führerscheinprüfung bestanden hatte. Das erwies sich als glückliche Fügung des Schicksals – bei seinen ersten Fahrversuchen alleine im hektischen Verkehr Londons war sie eine aufmerksame Beifahrerin, die ihm ein Gefühl der Sicherheit schenkte. Nicht dass sie oft in die Stadt gefahren wären. Meist reichte ihnen der Park gleich nebenan völlig aus; sie saßen hier am Karpfenteich, im Sommer auf einer Decke im Grünen, und verfolgten amüsiert, wie sich die Übermütigen im Badesee abkühlten. Sie mochten diesen Ort. Von hier aus hatten sie einen wunderbaren Blick auf die unteren Wiesen, und auch ihr eigenes Haus zeichnete sich undeutlich hinter den Bäumen ab, ein kleines, schmales Gebäude mit hohem Dach, liebevoll umrahmt von vielen anderen kleinen, schmalen Häusern, die von außen nicht viel hermachten, ihnen jedoch ans Herz gewachsen waren. Von hier aus sahen sie abends der Sonne zu, wie sie hinterm Parliament Hill versank und den Himmel glutrot entzündete. Mit ihren 100 Metern war die Erhebung freilich nicht der Ben Nevis, aber an einem

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