Ruf der Toten
Verstand formte Worte. 2018. Geister. Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es einfach.«
»Ach, Herr Allwissend mal wieder. Meinst du nicht, dass die Polizei das besser einschätzen kann? Dafür werden sie ausgebildet, um die Täter zu überführen.«
»O nein, Chris, so einfach ist das nicht.«
»Ach, nicht?«, fragte sie. Ihre blauen Augen musterten ihn mit jenem unangenehm durchdringenden Blick, der ihm immer das Gefühl gab, nackt und hilflos vor ihr zu stehen. Ihre nächste Frage traf ihn wie ein Hieb in die Magengegend. »Hast du wieder Drogen genommen?«
Er stieß sie von sich. »Nein, wie kommst du darauf?«
»Philip, bitte, sei ehrlich!«
War das wirklich ihr Ernst? Er begriff, er würde ihr nie erzählen können, was wirklich passiert war. Sie würde ihm nicht glauben. Niemandem konnte er erzählen, was er gesehen hatte. Weil niemand ihm glauben würde. Er schwieg.
Rabea schlich lautlos an ihnen vorbei und hopste aufs Bett. Das Plumeau raschelte unter ihren Pfoten. Sie machte sich lang und begann, ihr Fell zu putzen. Traurig sah Chris ihren Freund an: »Dein Entschluss gestern, dich zu ändern, ich dachte, du meinst es ehrlich.«
»Aber das tue ich.«
»Und warum sagst du mir dann nicht, was los ist mit dir? Nennst du das etwa ehrlich?«
»Du musst mir vertrauen.«
»Ich soll dir vertrauen? Klar, kein Problem. Deine Jobsuche gestern? Pah! Dass ich nicht lache. Dann die Vergewaltigung. Und übrigens: Grüß mir Beatrice!«
»Aber ich…«
»Du bist nicht ehrlich zu mir, Philip!«
»Es ist nicht so, wie du denkst.«
Sie hielt die Luft an. »Und was war das letzte Nacht?«
»Es tut mir Leid. Das war scheiße.«
»Das war es. Und…« Sie zog ihr T-Shirt hoch und entblößte die Brust. Noch immer glühten die Spuren seiner Attacke auf ihrer Haut, blaurote Schandflecken auf weißem Samt. »… und es war brutal!« Der Stoff fiel herab und bedeckte gnädig die blutigen Male. »Genau das passiert, wenn du dich nicht mehr unter Kontrolle hast. Herrgott, Philip, wann merkst du endlich, dass dich die Drogen kaputtmachen?«
»Chris, bitte.«
Sie stieß hervor: »Du widerst mich an.«
Das saß! Doch was sie dann mit mühsam beherrschter Stimme sagte, traf ihn noch härter: »Verschwinde, Philip! Lass mich alleine! Zieh mich nicht mit rein in die Scheiße, die du verzapfst. Lass mich in Ruhe! Einfach nur in Ruhe.«
London
Am liebsten hätte sie laut geschrien, ihren Verdruss mit aller Gewalt gegen die Bäume geschmettert, bis die Haut ihrer vom Frost klammen Hände zerplatzte, in der Hoffnung, so die Wände der dunklen Kammern in ihrem Inneren niederzureißen. Was verflucht ist mit mir los?
Mit Elonard an ihrer Seite durchquerte sie den Park, ohne ein festes Ziel, aber unnachgiebig rumorte ein Gefühl in ihr, das sie nicht zu fassen bekam. Jedes Mal, wenn sie glaubte, es käme gleich zum Vorschein und würde ihr wenigstens ein Stück ihrer Vergangenheit zurückgeben, baute sich plötzlich eine neue Mauer auf – und die Erinnerung blieb in ihr verschlossen. Sie ertrank und strampelte verzweifelt, um mit dem Kopf über Wasser zu gelangen, doch immer dann, wenn ihr Mund auch nur in die Nähe der Wasseroberfläche kam, zogen sie unsichtbare Hände wieder herab und der frustrierende Kampf begann von neuem.
Der Wunsch, zu schreien, wurde stärker. Doch außer einigen skeptischen Blicken der wenigen Passanten, die ihnen auf den verschlungenen Pfaden im Hampstead Heath begegneten, würde es nichts bringen. Und sie erregte ohnehin bereits die Aufmerksamkeit der Spaziergänger, mit Elonard und seinem Einkaufswagen an ihrer Seite.
Doch das berührte sie nicht. Sie kannte ihren Begleiter erst einen Tag, aber in dieser Zeit hatte er ihr einmal das Leben gerettet, ihr Mut zugesprochen und war im Grunde zu einem treuen Freund geworden – dem einzigen, der ihr in dieser leeren Welt geblieben war.
Elmi musste an ihrer düsteren Miene abgelesen haben, was in ihr vorging. »Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Bin bei dir«, sagte er.
Sie lächelte dankbar.
»Wir finden dich wieder«, beteuerte Elonard. In den letzten Stunden waren dies geflügelte Worte geworden. Keine Gelegenheit ließ er aus, um ihr seine Unterstützung zu versichern. Als habe sein tristes Straßenleben durch ihr Auftauchen einen neuen Sinn erhalten – oder als habe er die Chance bekommen, etwas wiedergutzumachen, was vor langer Zeit einmal schief gelaufen war.
Sie erreichten das östliche Parkende, wo sich um einen
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