Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
Schmerz gegeben in den Jahren ohne sie.“
Ich blickte mich in der kleinen Krypta um. Viele Gebeine lagen hier. Und an noch vielen mehr war ich vorbeigekommen, als ich die dunklen Räume hier unten nach ihm durchsuchte. Mir wurde auch ohne nähere Erklärung schlagartig klar, dass es sich nicht um die Gebeine von Heiligen handelte. Es waren die Überreste heidnischer Priester und Priesterinnen. Wer auch immer diese Kirche erbaut hatte, hatte zuviel Respekt vor diesen Knochen gehabt, um sie zu entfernen. Das Gotteshaus war über den heiligen Bestattungsräumen errichtet worden. Deshalb sollte auch möglichst niemand davon erfahren. Ich verstand, was Lucien gemeint hatte.
„Achtzig Jahre hatte ich ihn verdrängt, diesen Schmerz. Hatte mir eingeredet, er sei nicht da. Hatte mir selbst vorgemacht, ich könnte sie vergessen und mein Leben der Finsternis leben, als habe es sie nie gegeben. Mich in Lemains dunkler Leidenschaft und dem Fieber der Jagd verlieren. Ich habe versucht, damit zu leben. Habe versucht, zu vergessen – zu sein, was in meiner Natur liegt. Doch sie war immer da. Ihr Bild war so tief in meine Seele eingebrannt. Ihr Lachen suchte mich in meinen Träumen heim. Irgendwann ertrug ich Lemains Nähe nicht mehr. Weil ich das Wissen um das, was er mir genommen hatte, nicht länger verdrängen konnte. Ich kannte den Ort. Ich kannte den Baum noch genau, unter dem sie sie damals begraben hatten. Nach achtzig Jahren fand ich den Weg, als sei ich erst gestern dort gewesen. Ich grub sie aus und brachte ihre Knochen hierher. Seitdem liegt sie hier. Und seitdem bin ich nie wieder hierher zurückkehrt.“
„Und warum“, fragte ich zögernd, „bist du jetzt zurück gekehrt?“
„Um neben ihr zu liegen. Um neben ihr die letzte Ruhe zu finden.“ Sein Flüstern war kaum hörbar. Er lachte bitter. „Es stimmt, dass ich mich bemüht habe, Lemain aus dem Weg zu gehen, damit ich nicht wieder in seinen Bann gerate. Und weil ich ihn hasste für das, was geschehen war. Aber deshalb hätte ich Frankreich nicht fernbleiben müssen. Es war die Erinnerung an sie, die mich immer wieder eingeholt hätte. Und das konnte ich nicht ertragen. Jeder Besuch auf dem Gut meiner Familie war wie ein glühender Dolch in einer nie heilenden Wunde.“
Schmerz überwältigte mich. Sein Schmerz, mein eigener. Uralter Schmerz, und sehr frischer. Ich ergriff seine Hand. Kalt wie Stein. Tödlich kalt. Ich war mehr als bereit dazu, ihren Platz einzunehmen. Was sie hätte sein sollen, wollte ich – ihr Fleisch und Blut – nun sein. Seine Gefährtin für die Ewigkeit. Wenn er mich noch wollte.
Aber eine weitere Sache musste ich noch wissen.
„Mein Vater?“
Im ersten Moment blickte er mich verständnislos an, weil ich so plötzlich das Thema wechselte. Doch dann fasste er sich wieder.
„Franklin.“
Erst, als ich den Atem ausstieß, wurde mir bewusst, dass ich ihn angehalten hatte. Göttin, warum überraschte mich das nicht? Ich hätte es schon viel früher wissen müssen. Alles hatte darauf hingedeutet, aber ich hatte es nicht sehen wollen. Die Spannungen zwischen uns verstand ich nun zu gut. Welcher Vater würde nicht mit Strenge und Autorität reagieren, wenn er seine Tochter in unmittelbarer Gefahr sah, einem Vampir in die Ewigkeit zu folgen? Ja, wenn ich genau darüber nachdachte, hatte Franklin mich tatsächlich immer wie seine eigene Tochter behandelt. Die Aufmerksamkeit, die Sorge, die Strenge. Seine Nachgiebigkeit bei all meinen Fehltritten. Die unzähligen Versuche, Abstand zwischen Armand und mich zu bringen – nicht zuletzt dadurch, dass er mich nach Paris hatte schicken wollen. Ich war nun genau dort. Welch eine Fügung des Schicksals!
Ich war in einer bestimmten Absicht hierher gekommen. Darüber war ich mir schon im Klaren gewesen, als ich mich von Lucien verabschiedet hatte. Und er hatte es auch gewusst. Das hatte ich in seinen Augen gesehen.
Langsam stand ich auf. Wie in Zeitlupe drehte ich mich zu Armand um und streckte meine Hand nach ihm aus. Über uns schlug die große Glocke von Notre Dame die zwölfte Stunde. Der dreizehnte September begann. Mein Geburtstag. Gab es einen passenderen Zeitpunkt, um das Geschenk der Finsternis zu empfangen? Wenn er es mir noch geben würde.
„Armand?“
„Oui, ma chère?“
„Würdest du leben wollen? Für mich?“
„Du kommst zu mir zurück?“ Er konnte es noch immer nicht ganz glauben.
„Wäre ich sonst hier? Halt mich fest, bitte!“
Er war sofort an meiner Seite,
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