Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
Franklin von ihrer Bitte berichten, hätte ihm die Entscheidung überlassen müssen, wenn ich schon in Erwägung zog, es zu tun. Doch ich brauchte nur in ihren Körper hineinzuhorchen und wusste, dass die tatsächliche Diagnose noch viel schlimmer war, als das, was die Ärzte ihr gesagt hatten. Ihr Körper war zerfressen von Metastasen. Sie wusste es ebenso gut wie ich. Sie war eine Hexe und Hexen wissen, wann ihre Zeit zum Sterben kommt. Franklin hätte Camilles Anliegen abgelehnt. Daran bestand kein Zweifel. Er würde so etwas nie dulden. Darum hatte sie ihm erst gar nicht gesagt, weshalb sie mich noch einmal sehen wollte.
Doch für sie war es der einzige Ausweg, den sie noch sah. Dem Sterben konnte sie nicht entfliehen. Nur dieser Endstation im Krankenhaus mit den Apparaten und den Giften und der unpersönlichen, kalten Atmosphäre. Wenn ich ihr zu dieser Flucht verhalf.
„Ich will in den Armen meiner Familie, meines Blutes, sterben. Das ist doch nicht zuviel verlangt, oder?“, setzte sie erneut an. „Und ich will, dass dabei nichts verloren ist. Meine Erinnerungen, mein Wissen, meine Träume. Durch dich ist es mir möglich. Und das ist mehr, als ich je zu hoffen wagte. So flehe ich dich nun an, Mel, gewähre mir diesen letzten Wunsch.“
Ein Geräusch am Fenster ließ mich aufblicken. Man hatte es geöffnet um frische Luft hereinzulassen, damit Camille das Atmen leichter fiel. Eine schwarze Krähe hatte dort Platz genommen und blickte abwechselnd von mir zu Camille und wieder zurück.
„Mein Krafttier“, erklärte Camille leise. „In der Nähe des Todes kommen unsere Krafttiere oft sehr real in diese Welt, um unsere Seelen abzuholen und auf der letzten Reise sicher zu begleiten.“
Die Krähe flog zu uns herüber und nahm auf dem Kissen neben Camilles Kopf platz. In ihrer linken Schwinge leuchtete eine einzelne silberblaue Feder. Ein besonders Merkmal, das sie kennzeichnete. Sie von allen anderen ihrer Art unterschied. Ihre schwarzen glänzenden Augen fixierten mich. Sie krächzte dreimal. Dann sah sie Camille an und nickte mit ihrem feinen Kopf, als wolle sie mich auffordern, eine Pflicht zu erfüllen, die ich vor langer Zeit eingegangen war, als ich Camilles Schülerin wurde und durch meine Wandlung zur Bluttrinkerin bekräftigt hatte. Osira nahm neben mir Gestalt an. Sie und die Krähe begrüßten sich ehrfurchtsvoll. Meine Wölfin winselte leise und die Krähe senkte traurig das schwarzgefiederte Haupt. Es hieß Abschiednehmen. Ein Mord aus Gnade, statt aus Hunger. Vielleicht der einzige dieser Art, den ich je begehen würde. So legte ich den eisigen Manteldes Vampirs um mich, verschloss meinen Geist vor allen Gewissensbissen und allen Gefühlen. Nur nicht vor dem einen. Meiner aufrichtigen Liebe zu Camille. Ich hob sie in meine Arme, ergriff ihre Hand. Sie war fast so kalt wie meine eigene.
„Komm zu mir, mein Herz“, flüsterte ich und sie richtete sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte auf. Ich schloss meine Augen. „Ich tu es für dich, Camille. Für dich und für die Liebe, die immer zwischen uns war. Finde deinen Frieden.“
„Ich danke dir“, antwortete sie kaum hörbar.
Dann senkte ich meine Zähne in ihre Kehle. Der Puls war schwächer, als bei meinen anderen Opfern, aber stark genug, um ihr Blut schnell in meinen Mund zu pumpen. Bitteres, krankes Blut. Ich musste würgen. Das war es nicht, was wir für gemeinhin taten. Wir tranken nicht von den Todgeweihten. Wir weihten die Lebenden erst dem Tode. Doch Camille war nicht solch ein Opfer, also trank ich weiter. Für Augenblicke war ich versucht, mich vor ihren Erinnerungen zu verschließen. Doch wenn ich das getan hätte, wäre all ihr Wissen verloren. Alles, wofür sie ein Leben lang gekämpft hatte, würde in Vergessenheit geraten. Also öffnete ich meinen Geist so weit wie meine Lippen und nahm alles auf, was sie mir zu geben hatte.
Der Tod kam schnell und ich hielt sie in den Armen, als sie den letzten Atemzug tat. Es war viel friedlicher als bei dem Bodyguard in Miami, der um sein Leben gerungen hatte. Camilles Geist wehrte sich nicht, ihr Herz kämpfte nicht. Als es brach, war die Krähe bereits nicht mehr da. Und ihre Seele ebenso wenig. Ein sanftes Hinübergleiten, das nicht das Gefühl von Frevel in mir zurück ließ. Mit diesem Tod konnte ich leben. Vielleicht ein Ausweg, den sie mir in ihrem Sterben zeigte. Wenn ich schon tötete, dann jene, für die es ohnehin zuende ging. Aber es blieb Mord, so oder so, mein Gewissen
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