Ruf des Blutes 2 - Engelstränen (German Edition)
nieder. Es war zuviel geschehen in den letzten Wochen. Meine Kräfte waren erschöpft, mein Geist überfüllt mit den Lehren des Lords und dem Wissen meiner geliebten Lehrerin. In meinem Kopf drehte sich alles wie ein buntes, leuchtendes Karussell. Schlaf, ich sehnte mich nach Schlaf. Einem kurzen Augenblick des Vergessens in Armands Armen. So wie früher, bevor ich dem Ruf gefolgt war. War das noch möglich?
Fragend hob ich den Blick. In Armands Augen stand dieselbe Unsicherheit. Hatte ich mich verändert? Hatte sich etwas an unserer Liebe verändert?
„Es ist nicht mehr dasselbe, wenn man bei ihm in der Lehre war, nicht wahr?“, fragte er zögerlich.
Ich atmete tief durch. Was sollte ich darauf sagen? Was ihm erzählen? Von all den Schrecken, die ich bei unserem Lord gesehen hatte. Die ich innerlich noch immer ablehnen wollte und die doch schon Teil meiner selbst waren.
„Und du dachtest, Lemain sei grausam.“
Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich hatte kein Idealbild mehr von dem weisen Vampirfürst. Dem Ältesten. Dem Lord. Dem sanften, gnädigen Todesengel. Ich kannte sein wahres Gesicht. Beide Gesichter.
„Lemain kann grausam sein, in seiner Jagd. Lucien hingegen ist nur gleichgültig. In meinen Augen macht ihn das zum erstrebenswerteren Vorbild.“
„Hat es dich verändert, als du sein Gefährte warst?“
„Beaucoup trop! Zu sehr.“
Sanft berührte ich seine Wange. In seiner grauen Iris schimmerte Angst, vermischt mit einem Hauch von Schmerz.
„Vielleicht hat es mich noch mehr verändert, als dich. Vielleicht wird dich erschrecken, was er in mir geöffnet hat“, flüsterte ich. Er verneinte stumm. „Ich habe Angst, mich an die Dunkelheit zu verlieren.“
„Das wirst du nie. Das weiß ich.“
Black Jake
Er hatte keine andere Wahl, als Melissa gehen zu lassen. Hätte er verlangt, dass sie in Miami blieb, während ihre Großtante im Sterben lag, hätte das nur einen Keil zwischen sie getrieben und das konnte er sich nicht leisten. Aber er hatte sie inzwischen auch sicher genug an sich gebunden. Sie würde von allein zurückkommen. Daran gab es keinen Zweifel. Für den Moment konnte er nichts weiter tun, also gönnte er sich seit langem wieder einmal einen Abend in der Stadt der Illusionen. Las Vegas.
Im ‚Luxor’ war Lucien ein bekannter und gern gesehener Gast. Schon am Eingang der riesigen nachgebauten Cheopspyramide mit der Sphinx als beständigem Wächter wurde er persönlich begrüßt.
„Mr. Memphis, wie schön, Sie wieder einmal in unseren bescheidenen Räumen willkommen heißen zu dürfen.“
Lucien reichte dem arabischen Empfangschef seinen Umhang. „Ich hätte gern einen Platz am Roulett.“
Das Roulett, das Lucien meinte, war keines der Üblichen im Casino. Er war Mitglied eines elitären Clubs von Roulettspielern, die über das Vermögen verfügten ohne Limit spielen zu können und einen gesonderten Rouletttisch in einem separaten Raum hatten, an dem sie sich sporadisch trafen. Jeden Abend waren einige der Mitglieder da. Sie waren zwischen zwanzig und dreißig insgesamt, kannten sich flüchtig, wie Spieler einander kennen können. Lucien kannte sie alle besonders gut. Er las in ihren Gedanken und kannte jeden Abgrund, den sie zu verbergen suchten. Als der Empfangschef die weiße Tür zum Privatroulettraum mit einer Chipkarte und Pin-Nummer öffnete, hoben sich auch heute Abend wieder alle Köpfe. Lucien nahm jeden für einen Moment gefangen. Die Spieler, Croupiers, Callboys und -girls, Kellner. Sein dunkler Blick streifte sie, las in ihren Seelen. Und ganz tief innen spürten sie das alle.
„Guten Abend“, sagte er in die Runde und nahm seinen Stammplatz nahe dem Kessel ein.
„Wie viele Jetons?“, fragte der Bankcroupier.
„Zweihundertfünfzigtausend Dollar für den Anfang.“
„Wünschen Sie sonst noch etwas, Mr. Memphis? Gesellschaft vielleicht?“, erkundigte sich Dickens, einer der beiden Angestellten, die sich für diesen Abend um ihn allein kümmern würden. Aber Lucien entließ ihn mit einem Winken. Er streifte seine Lederhandschuhe ab und reihte die Jetons sorgfältig auf.
„Können wir jetzt endlich weitermachen?“, fragte einer der anderen Spieler, ein älterer Herr, der sich bereits die Fliege aufgebunden und die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet hatte. Er schwitzte. Offenbar hatte er nicht viel Glück heute Abend. Eine Asiatin stand hinter seinem Stuhl und massierte ihm den Nacken.
„Nur nicht so ungeduldig, Shannon.
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