Ruf des Blutes 4 - Unschuldsblut (German Edition)
nahm ich erleichtert die Schatulle mit dem Schlüssel in die Hand. Er sah eher unscheinbar aus. Aber das wusste ich ja bereits von den Skizzen.
Ich verließ das Calais so, wie ich es betreten hatte, durch ein Dachfenster. Es sollte immerhin echt aussehen, für den Fall, dass ich beschattet wurde.
Bei meinem Weg über die Dächer von Paris spielte ich mit dem Gedanken, auf Armands Landgut vorbeizuschauen. Vielleicht fand ich ja doch eine Spur von ihm. Es konnte immerhin sein, dass Henry mir nicht die Wahrheit gesagt hatte, falls er von Armandentsprechend instruiert war. Ich hatte keinen direkten Kontakt zu der Detektei, die der Verwalter mit der Suche beauftragt hatte. Alles lief über Henry. Wer konnte mir also garantieren, dass es sie gab und dass sie auch wirklich daran arbeiteten?
„Den Weg kannst du dir sparen“, erklang eine vertraute Stimme ganz in der Nähe.
Am anderen Ende des Dachfirstes eines Nobelrestaurants stand Lemain Vitard, Armands Dunkler Vater und mein einstiger Lebensretter. Wir hatten uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Er trug einen modernen dunkelgrauen Anzug mit Krawatte und dazu ein cremefarbenes Hemd. Beides betonte sein flammendrotes Haar und die leuchtend-grünen Augen. Wer uns miteinander sah, konnte uns durchaus für Geschwister halten. Dabei lag nichts ferner als diese Vermutung.
„Du siehst erstaunlich … undüster aus“, begrüßte ich ihn.
Er machte eine entschuldigende Geste und lächelte mich an. Dabei blitzten seine Fänge auf. „Man geht mit der Zeit, wie du weißt. Bist du in Eile oder hast du Zeit für einen kleinen Plausch unter Freunden bei einem guten Schluck?“
Ich kämpfte meine alten Ängste nieder, als er galant meine Hand ergriff und einen Kuss darauf hauchte. Seit meiner Wandlung hatte er mich nie wieder bedroht. Und inzwischen empfand ich, was er getan hatte, längst nicht mehr so grausam wie zu meinen sterblichen Zeiten.
„Wenn es Wein aus einer Flasche sein darf, gern. Aber nach einer gemeinsamen Jagd steht mir nicht der Sinn.“
Gönnerhaft deutete er auf das Restaurant unter uns. „Sehr nobel, mein Täubchen. Was denkst du, warum ich dich gerade hier angesprochen habe, obwohl ich dir schon seit dem Calais de Saint folge?“
Seine Worte hinterließen ein ungutes Gefühl, aber dafür konnte er nichts. Nur die Art, wie er das sagte, zeigte mir, ihm war durchaus bewusst, dass mein Besuch dort wissentlich erfolgt und kein Einbruch war. Wenn er es durchschaute, dann vielleicht auch andere.
Lemain konnte ein formvollendeter Gentleman sein. Er hielt mir zuvorkommend die Tür auf, half mir aus meinem Mantel, rückte mir den Stuhl zurecht. Beim Kellner bestellte er eine Flasche des besten Rotweins, den das Haus zu bieten hatte, und zu meiner Verwunderung wusste er den guten Tropfen durchaus zu schätzen.
„Nach dem, was Armand mir erzählt hat, dachte ich nicht, dass du dem Wein zusprichst.“
Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und fuhr mit der Fingerkuppe über den Rand seines Glases, bis ein klarer, samtener Ton erklang.
„Nicht oft, mein Täubchen. Aber zuweilen weiß ich eine gute Küche und einen erstklassigen Wein oder Champagner durchaus zu genießen. Vor allem in bezaubernder Gesellschaft.“
Sein zweideutiger Blick ließ mich unwillig schnauben. Ein Schäferstündchen war das Letzte, was ich mir mit ihm vorstellen wollte. Eigentlich hatte ich die Einladung zum Wein nur angenommen, weil er etwas über Armands Verschwinden zu wissen schien.
„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“, fragte ich geradeheraus.
„Armand?“
Ich nickte und nahm einen Schluck Wein. Er schmeckte angenehm blumig mit einem Hauch von wilder Frucht und milden Tanninen.
„Er ist seit Wochen wie vom Erdboden verschluckt. Und auch sein Verwalter hat nicht die Spur einer Ahnung, wo er steckt. Ich hatte gehofft, dass du mir Näheres darüber sagen kannst.“
Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. „Als ich von einem Einsatz in Shanghai zurück kam, war er fort. Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief, in dem er mir mitteilte, dass er sich für immer von mir trennt. Seitdem fehlt jede Spur. Auch Franklin und Henry haben einen ähnlichen Brief bekommen.“
Lemain schmunzelte. „Ach, hat er ihnen auch die ewige Liebe abgesprochen?“
Ich verzog das Gesicht, weil er mich bewusst falsch verstand. Er erkannte seinen Fehler und bat um Verzeihung.
„Mir ist auch aufgefallen, dass seine Präsenz von einem auf den anderen Tag verschwunden war. Zunächst
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