Ruf des Blutes 5 - Erbin der Nacht (German Edition)
Augen hätte mich warnen sollen, aber ich ignorierte es.
„Stört es dich?“
„Du hattest kein Recht, das zu tun. Seine Schwäche derart auszunutzen. Verdammt, er ist mein Vater! Denkst du nicht, dass wir im Augenblick andere Sorgen haben? Du bist doch derjenige, der mich unbedingt meinem Schicksal zuführen wollte. Jetzt steht es kurz bevor und ich werde von allen gejagt. Aber statt mir zu helfen, verführst du Franklin. Bei der Göttin, hast du wirklich nicht den Funken von Anstand und Moral?“
Luciens Antwort war ein Lachen. Ein kaltes, höhnisches Lachen, das mir in die Seele schnitt. Es ging hier nicht um irgendwen, es ging um meinen Vater, und Lucien kümmerte das nicht. Er genoss es, alle wie Marionetten an seinen Fäden tanzen zu lassen, ihnen ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten vor Augen zu führen, indem er ihnen genau das bot, was sie begehrten, während sie wussten, dass es ihr Untergang war. Nie zuvor hatte etwas in mir so heiß gebrannt wie der Hass auf meinen Lord in diesem Augenblick.
Ich dachte nicht nach, reagierte einfach. Meine Hand besaß ein Eigenleben, als sie vorschnellte und mein Handrücken mit einem hässlichen Geräusch auf Luciens Wange traf. Ich hörte, wie die Haut aufplatzte, wie mein Ring der Nacht sie durchschnitt als wäre sie Pergament. Der Lord zuckte nicht mit der Wimper. Doch er ließ die Maske zynischer Überheblichkeit fallen. Statt des Spotts schlug mir eiskalte Verachtung entgegen, weil ich meinen Platz vergessen und es gewagt hatte, ihn anzugreifen. Lucien packte mich so fest an der Kehle, dass ich kaum Luft bekam. Seine Stimme war ein leises, drohendes Flüstern.
„Leg dich nicht mit mir an,
thalabi
. Wer bist du, das zu tun? Wenn ich deinen Vater will, dann nehme ich ihn mir. So wie ich mir alles nehme. Und egal was du sagst, du wirst keine Reue bei mir finden. Ich rechtfertige mich nicht vor dir. Nach fünftausend Jahren, in denen ich mir meinen Rang und mein Recht in den Reihen der Unsterblichen erfochten und verdient habe, rechtfertige ich mich vor niemandem mehr.“
Er stieß mich von sich und ich landete unsanft auf dem Boden. Mühsam atmete ich tief durch und schluckte. „Ich habe Angst um ihn“, fauchte ich. Kannst du oder willst du das nicht verstehen?“ Seine Überlegenheit verunsicherte mich, kühlte meine Emotionen jedoch keineswegs.
„Ich weiß“, gab er kalt zurück. „Weil du meine Prinzipien kennst.“
„Du wirst ihm nichts tun!“, sagte ich entschieden selbstbewusster als ich mich in Wahrheit fühlte.
Meinem Lord entging der ängstliche Unterton, der in meiner Stimme mitschwang nicht, egal wie kampfeslustig ich mich gab. Es amüsierte ihn sichtlich, und er spielte ein bisschen Katz und Maus.
„Was meinst du, Mel? Ob ich ihn töte oder verwandle? Was wäre schlimmer für dich?“
„Lucien bitte!“, es war ein gequältes Aufstöhnen. Meine Wut zerstob in Sekunden unter seiner Macht, und mir wurde mit Schrecken bewusst, was das für meinen bevorstehenden Kampf mit Kaliste bedeutete. Wenn ich Lucien nicht die Stirn bieten konnte – nicht mal für einen Augenblick, wie sollte ich es dann bei ihr schaffen?
„Zu menschlich,
thalabi
“, sagte er und hob tadelnd den Finger. „Ich sag’s ja, du bist immer noch zu menschlich.“
„Lucien!“
Er wischte mein Flehen mit einer ärgerlichen Handbewegung fort. „Ich werde deinem Vater nichts tun. Das lag nie in meiner Absicht. Sieh ihn als Ausnahme von der Regel. Er wird weder von meiner Hand sterben noch verwandelt. Es sei denn …“, er machte absichtlich eine Pause, um mir die Bedeutung seiner Aussage klarzumachen „… er will es. Wenn er mich darum bittet, einer von uns zu werden, werde ich ihm diese Bitte nicht abschlagen.“
Das würde Franklin nie tun. Davor fürchtete er sich mehr noch als vor dem Tod. Doch ich durfte Luciens Anziehungskraft nicht unterschätzen. Ich verstand nicht, warum mein Lord das hatte tun müssen. Oder vielleicht verstand ich es auch zu gut. Ich wusste, wie sehr Franklin sich davor fürchtete, der Verlockung nicht ewig widerstehen zu können. Mit dem Alter kamen immer mehr kleine Unpässlichkeiten. Gerade dann konnte Unsterblichkeit sehr verlockend erscheinen. Und Armand gab ihm nur so viel von dem dunklen Blut wie nötig. Aber das Verlangengierte ständig nach mehr. Die Abhängigkeit wie bei einer Droge.
„Warum?“, stellte ich Lucien die Frage, die Franklin zuvor an mich gerichtet hatte. „Es gibt doch keinen Grund. Warum er und warum
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