Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
Fürst von einst. Statt der aufrechten Haltung ging er leicht gebeugt. Die Augen lagen tiefer in den Höhlen und das Orange seiner Iris wirkte trotz der Wachsamkeit leblos. Ich sah ihn zittern, als kostete es ihn Kraft, die er kaum mehr besaß, hier mit mir in diesem Zeittor zu stehen. Warum nahm er es in Kauf, wenn es ihn an seine Grenzen brachte?
„Ich sehe an deinem Blick, dass du dir meiner Schwäche bewusst bist. Und ja, der Tod ist nahe. Ich habe mich bemüht, alle Vorkehrungen zu treffen, damit mein Lebenswerk fortgeführt wird. Ein würdiger Nachfolger ist erwählt und soll bald schon geweiht werden. Ihm zur Seite stehen loyale Vertraute. Aber eines habe ich nicht bedacht.“ Er wandte sich ab und seine Züge verrieten Resignation und Schuldgefühle. „Ich rechnete nicht mit der Gier nach Macht, obwohl sie mir hätte bewusst sein müssen.“
„Dann gab es mehrere, die deine Nachfolge begehrten?“
Er schüttelte den Kopf, weniger als Verneinung, sondern um seine Gedanken zu sortieren. Corelus suchte nach Worten. Schließlich ballte er die Hand zur Faust und sah mich mit verzweifeltem Flehen an. „Du musst ihn beschützen, Melissa. Wenn du über ihn wachst, hat er eine Chance, seinen Neidern die Stirn zu bieten.“
Ich spürte, wie sehr es ihn drängte, aber solange er in Rätseln sprach, konnte ich nichts für ihn tun, selbst wenn ich wollte. Beruhigend legte ich meine Hand auf seinen Arm. Ihn störte die Kälte meiner Haut nicht. „Corelus, von wem redest du? Wen soll ich beschützen? Und wovor?“
„Eloin!“
Mir blieb der Mund offen stehen. Eloin als neuer Lycanerfürst? Der Eloin, der mit dem Wind durch die Wälder Rumäniens streifte und den Gesang seines Rudels anstimmte?
„Er ist würdig. Er achtet die Werte, für die ich in den letzten Jahrzehnten eingestanden bin. Um die ich Jahrhunderte gerungen habe. Der Frieden mit den Menschen darf nicht angetastet werden.“
Ich schluckte, fand aber wieder zu mir. „Corelus, ich widerspreche dir ungern, aber denkst du wirklich, dass Eloin dem gewachsen ist, was du ihm aufbürdest?“
Seine Reaktion bestätigte, dass er selbst wusste, wie fragwürdig dies war. „Ich habe ihm Anelu zur Seite gestellt. Er ist absolut loyal und treu und wird für ihn sterben, wenn es nötig sein sollte. Anelu wurde von mir wie ein Nachfolger erzogen, damit der echte Erbe so lange wie möglich geheim bleiben konnte, weil ich ahnte, dass ein Halbblut, das noch nicht einmal die äußerlichen Merkmale der Fürstenlinie zeigt, nicht ohne Weiteres anerkannt werden würde. Ich dachte, wenn ich den Adelsfamilien keine Wahl lasse, sie vor vollendete Tatsachen stelle, wäre es leichter. Doch ich habe Domeniko unterschätzt. Anelu hätte er sich wohl gebeugt, wenn auch unter Zwang. Doch als ich Eloin benannte, war er außer sich. Ich fürchte um die Sicherheit meines Nachfolgers. Domeniko schreckt vor nichts zurück. Darum bitte ich dich, dein Exil aufzugeben und zurückzukehren, damit du ihn schützen kannst, wenn ich nicht mehr bin.“
Nun fehlten mir erst recht die Worte. Wie kam Corelus auf die Idee, dass ausgerechnet ich Eloin vor Domeniko beschützen könnte? Ich erinnerte mich vage an den schwarzen Rüden, der mit mir in der Engelshöhle des Kilimandscharo auf Dracon gewartet hatte und unter dessen Wache es dem Drachen doch gelungen war, den Engel zu verwandeln.
„Ich weiß“, sagte Corelus in meine Gedanken. „Es ist viel verlangt. Auch für dich besteht eine Gefahr. Ein Lycanthrop kann einen Vampir töten. Tiefe Verletzungen durch Krallen oder Zähne eines Werwolfes überlebt deinesgleichen nicht. Doch andererseits, und damit wirst du verstehen, warum ich zu dir komme, kann eine Vampirkönigin auch einen Lycanerfürst töten.“
Das galt es, erst mal zu verdauen. Die volle Bedeutung seiner Worte sickerte langsam in meinen Verstand.
„Es geht nicht nur darum, Eloin zu beschützen, sondern auch, Domeniko zu töten, wenn es ihm gelingen sollte, Eloin zu stürzen.“
„Ihn aufzuhalten“, korrigierte Corelus, aber es klang halbherzig.
Ich atmete tief durch. „Du vergisst nur leider eine Kleinigkeit, mein Freund. Ich bin an die Nacht gebunden. Zwar tötet Sonnenlicht mich nicht mehr, aber es verursacht Schmerzen, die mich alles andere als kampffähig machen. Damit tauge ich als Beschützer nicht viel. Domeniko braucht seine Aktivitäten bloß auf den Tag zu verlegen.“
„Du wirst einen Weg finden, wenn es nötig ist. Halte ihn nicht für klüger als er
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