Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
dankbar – und er fühlte sich schuldig. Schließlich war es seine Manipulation gewesen, die Melissa zur Schicksalskriegerin machte. Prophezeiungen hin oder her, wenn er ihr nicht den einen Tropfen Blut gegeben hätte, als Dracon bereits auf ihrer Spur war, wäre alles anders gekommen. Aber das wusste niemand – niemand außer ihm und Raphael. Und der schwieg. Sein Geliebter hatte immer zu ihm gestanden.
Trotzdem war sich Tizian darüber im Klaren, was er Melissa angetan hatte. Dass sie einen Preis zahlen musste für etwas, das sie gar nicht wollte, nur damit er von dem Damoklesschwert seiner Schwester befreit war, die ihn zeitlebens lieber tot als lebendig gesehen hatte und über kurz oder lang alles versucht hätte, sich seiner zu entledigen. Jetzt war er frei, war sicher, aber jemand anderer hatte dafür geblutet, nicht er. Wenn er in den Spiegel sah, erinnerte ihn sein Antlitz jedes Mal an seine Zwillingsschwester. Die hohen Wangenknochen, die türkisfarbene Iris und das lange nachtschwarze Haar. Was sie unterschied, war weniger das Äußerliche als vielmehr die innere Stärke. Er war froh, nicht Kalistes Kaltblütigkeit und Bosheit zu teilen, doch im Spiegel blickte er in die Augen eines Feiglings und dafür schämte er sich. Da half es nicht, sich einzugestehen, dass er niemals stark genug gewesen wäre, Kaliste die Stirn zu bieten. Dass insoweit die Prophezeiung recht gehabt hatte und es Melissas Bestimmung war statt der seinen.
Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte Tizian ihrem Vater angeboten, ihn mit dem dunklen Blut zu nähren, damit die Sucht danach ihn nicht quälte und in die Knie zwang. Doch Franklin Smithers hatte sich anders entschieden und Tizians Angebot abgelehnt. Stattdessen blieb er bei Lord Lucien, was Tizian durchaus verstand. Dort wusste er, worauf er sich einließ, welchen Preis er bezahlte. Bei ihm wäre dies eine offene Frage gewesen.
Tizian hatte nicht das Gefühl, dass es Franklin Überwindung kostete oder ihm Qualen verursachte, an Lucien gebunden zu sein. Es war auch nicht seine Entscheidung, nicht seine Aufgabe, sich darum zu kümmern. Franklin war ein freier Mann, der seine Entscheidungen fällen konnte, wie es ihm beliebte. Und inzwischen verband ihn und den Lord wohl auf beiden Seiten mehr als nur das Blut und das Spiel um Macht.
Also waren er und Rafe nach Hause zurückgekehrt. In ihr Exil – ein ganz ähnliches wie jenes, das Melissa gewählt hatte. Er wusste nicht, wo sie war, aber er spürte, dass sie nicht in diese Welt zurückkehren wollte. Sich ihr nicht länger zugehörig fühlte. Ihm erging es ähnlich. Er brauchte niemanden außer Raphael. Dessen Bruder Arian leistet ihnen hin und wieder Gesellschaft und übernahm ansonsten die Rolle eines Wächters und Beschützers, der alles und jeden von ihrer Zuflucht fernhielt. Er war das Bindeglied nach draußen, damit sie stets wussten, was in der Welt der Menschen vorging. Sich dort zurechtfanden, wenn es sie in den Trubel zog, ihnen die Einsamkeit zu viel wurde. Aber lange hielt Tizian es nie dort aus. Der Lärm und die Enge erstickten ihn. Da war ihm die karge Umgebung des Vulkans lieber, zu dessen Füßen sie ihr Refugium aufgeschlagen hatten. Außer Rafe brauchte er nichts, um glücklich zu sein.
Die Erde zitterte. In den letzten Tagen hatte sie das oft getan, und die Stöße wurden heftiger. Erdbeben waren nahe ihrer Heimstatt nichts Ungewöhnliches. Die Stärke und Häufigkeit der Erschütterungen jedoch schon. Tizian schloss die Augen und ließ seine Sinne mit der Erde, dem Gestein und der Luft verschmelzen, um zu erfahren, was vor sich ging. Der Vulkan ruhte seit Ewigkeiten. Unwahrscheinlich, dass er von einem Tag auf den anderen zum Leben erwachte.
„Was fühlst du?“, fragte Raphael und legte ihm die Hände auf die Schultern.
Tizian brauchte seinen Gefährten nicht anzusehen, um zu wissen, dass auch er die Augen geschlossen hielt und sich in deren Gold Sorge spiegelte. Während Tizians Sensitivität in seinen inneren und äußeren Gefühlen lag, vermochte Raphael jeden noch so leisen Laut zu vernehmen und selbst geringste Veränderungen des Geruchs. Ihre Heimat war ihnen vertraut, aber jetzt ging etwas vor, das sie ins Ungleichgewicht brachte. Tizian zitterte unter der Gewalt, die hier wirkte.
„Ich fühle, wie sich ein Körper windet. Er gleitet durch das Erdreich, schlängelt sich aus Felsspalten hervor, kämpft gegen uralte Kräfte, die ihn binden. Da ist … Zorn.“ Tizian runzelte die Stirn, hinter der
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