Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
verstorbenen Vater und dem neuen Mann ihrer Mutter, der Grund für ihren Umzug nach Washington gewesen war. Auch Justin hatte es zuhause nicht ausgehalten, erst recht nicht, nachdem Sally als Bezugsperson fort war. Von seinem Ausriss hatte Sally erst Wochen später erfahren, von Justin fehlte jede Spur.
„Biff hat mich auf der Straße gefunden und mitgenommen. Erst dachte ich, er wär so ein Perverser, der auf kleine Jungs steht, aber ich hatte kein Geld und Hunger, also hab ich mir gesagt, das wird schon rumgehen. Doch Biff ist klasse. Er hat mich bei sich aufgenommen. Wollte einen Schüler, das hat er immer wieder betont. War ihm total wichtig. Er hat mich dann Dusty genannt. Ich glaub, er hat es falsch verstanden, aber ich fand’s cool.“
Der Junge grinste über beide Ohren. Ich hätte ihm und seiner Schwester gern mehr Zeit gegeben, denn sie hatten sich bestimmt viel zu sagen. Aber wir brauchten Dusty am Rechner und Sally musste darauf vorbereitet werden, was passiert war, wo sie sich befand, wer wir waren und was uns allen bevorstand.
„Dusty, bei allem Verständnis für eure Wiedersehensfreude, aber …“ Ich deutete auf die Tastatur.
Der Junge wurde hektisch. „Ja, klar. Sorry!“ Er klemmte sich wieder hinter den Bildschirm.
Sally stand ein wenig verloren im Raum, obwohl Ben sie in den Arm nahm. Der einzig Vertraute neben ihrem Bruder. Fast tat es mir leid, dass ich sie nicht schonen konnte. Doch dafür fehlte die Zeit.
„Sally, ich bin froh, dass Sie wieder bei Bewusstsein sind und Ihnen nichts Schlimmeres widerfahren ist als der blaue Fleck.“
Sie betastete die Stelle. „Halb so wild“, meinte sie und versuchte ein Lächeln.
„Hat Ben Ihnen gesagt, was in Washington passiert ist?“
Sie nickte und kämpfte sichtlich mit ihren Gefühlen.
„Es tut mir leid.“ Ich räusperte mich. In solchen Dingen war ich nie sonderlich gut. „Ich bin Melissa Ravenwood. Eine alte Freundin von Ben.“ Ich hielt ihr die Hand hin, die sie zögernd ergriff. Die Kälte meiner Haut ließ sie die Stirn runzeln.
„Mel ist ein Teil meines … früheren Lebens. Des … Geheimnisses.“
Sie hatte herausgefunden, dass sein Profil nicht vollkommen stimmig war, aber ihm genug vertraut, um es nicht zu hinterfragen.
„Es ist besser, wenn Sie von Anfang an wissen, was hier vor sich geht. Ihr Bruder hat bereits eine Bekanntschaft der dritten Art gemacht, sozusagen.“
Auf ihre Reaktion kam es jetzt an. Im Zweifelsfall blieb nur, sie ruhigzustellen. Das hatte ich Steven bereits gesagt. Ben würde mich dafür hassen, aber ich konnte keine Hysterie brauchen.
„Sie sind hier in einem paranormalen Ordenshaus und einige von uns sind Vampire.“
Ich sah, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Dusty hingegen ließ sich sofort wieder von seiner Arbeit ablenken.
„Echt jetzt? Richtige Vampire? Cool!“
Armand hob amüsiert eine Braue. Der Kleine war wirklich tough. Schon die Sache mit den Werwölfen hatte er ziemlich schnell verkraftet, nachdem Blue ihn hierher brachte. Die Tatsache, mit Vampiren in einem Raum zu sein, schien ihn nicht mehr zu schrecken. Er sah uns nicht als Gefahr.
Ich warf Dracon, der den Burschen interessiert beäugte, einen warnenden Blick zu, die Finger von ihm zu lassen. Ich brauchte nicht noch einen Jungvampir wie Warren. Gerade jetzt nicht.
Es wunderte mich überhaupt, dass Armand es ohne Weiteres tolerierte, dass er seit der Begegnung in Luciens Wohnung wie ein Schatten ständig in unserer Nähe war. Doch nachdem auf der Hand lag, dass es die letzten sieben Jahre nicht anders gewesen war, wollte mein Liebster ihn lieber sehen, statt aus dem Verborgenen heraus bespitzelt werden. Mich belastete Dracons Gegenwart zuweilen, weil es meine Emotionen und Gedanken durcheinanderwirbelte. Das Wissen, was er für mich empfand, was er mir einmal geschworen hatte. Das Band zwischen uns war zu eng und ich vermochte es nicht zu lösen. Umso genauer schaute ich ihm auf die Finger, damit er nicht mehr Ärger verursachte, als Nutzen zu bringen.
„Wie in Underworld?“, hakte Dusty noch einmal nach. „Die Guten und die Bösen, nur andersrum?“
Ich erinnerte mich dunkel. Meine Gattung war in dem Hollywoodstreifen nicht so toll weggekommen. Die Lycaner umso besser. Tja, da konnte man wohl vom Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit sprechen.
„Ja, könnte man so sagen“, erklärte Dracon und betrachtete betont desinteressiert seine Fingernägel. „Aber wir sind immer die Guten.“
Osira und ich
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