Ruf des Blutes 6 - Wolfspakt (German Edition)
sich vor Augen, dass Anelu ein besserer Nachfolger für Corelus gewesen wäre. Es verdient hätte. Aber der junge Rüde verlor darüber kein Wort und haderte nicht eine Sekunde damit, die Rolle seines Beraters einzunehmen.
Missmutig nahm er Anelu das Besteck ab, setzte sich an den Tisch und übte, kleine Stücke aus den Steaks zu schneiden. Der Geschmack des ersten Bissens ließ ihn würgen.
Das amüsierte Gesicht des Vampirs machte das nicht einfacher, auch wenn der Spott freundlich gemeint war. „Hadere nicht damit“, riet er, ehe er ging. „Wir alle müssen uns zuweilen überwinden, wenn wir überleben wollen.“
„Hat Melissa gesagt, wie lange Domeniko ihrer Meinung nach noch warten wird?“
Anelu schüttelte den Kopf. „Sie tappen genauso im Dunkeln wie wir.“
„Ich bin nur ein lästiges Insekt, das er nebenbei zertreten will, während er die Welt zerstört“, stellte Eloin verbittert fest. „Nicht mal würdig, sein Gegner zu sein.“
„Er will dich verletzen. Dich demoralisieren. Darum tut er das.“
Anelu mochte es gut meinen, doch das Gefühl der Minderwertigkeit wollte nicht weichen. Es verdarb ihm den ohnehin geringen Appetit, weshalb er das Besteck auf den Teller warf und selbigen von sich schob.
Ungeachtet der Proteste seiner beiden Vertrauten ging er auf den Balkon.
„Saphyro hat gesagt, es sei alles ruhig. Also bin ich nicht in Gefahr.“
„Er kann sich irren.“
„Das ist mir egal!“
Was er vorhatte, war leichtsinnig, das wusste er. Aber wenn er noch länger in diesem Prunk vor sich hinvegetierte, konnte Domeniko sich einen Mordanschlag sparen. Dann starb er an Langeweile oder Verzweiflung.
Eloin streifte sich das gestärkte Hemd und die unbequemen Hosen ab und sprang über die Brüstung, ehe Anelu ihn aufhalten konnte. Federnd landete er auf dem weichen Rasen der Parkanlage. Mit einem letzten Blick nach oben sah er die entgeisterten Gesichter von Anelu und Lysandra. Letztere streckte die Hand nach ihm aus, doch ihn konnte nichts mehr aufhalten.
In Wolfsgestalt flog er über die Felder und Wiesen der britischen Ländereien. Die Rufe seiner Beschützer hörte er schon nach wenigen Metern nicht mehr. Der Wind im Fell tat gut, seine Krallen gruben sich tief in den weichen Boden und die Nacht trug ihm den Duft von Kaninchen und Fasanen zu. Kleine Beute, schnell zu schlagen. Wie eine verbotene Süßigkeit. Einmal durfte er sie sich gönnen. Ab morgen wollte er brav den Adligen spielen, der sich hinter seinen Leibwächtern versteckte. Aber er wollte fühlen, dass er lebte.
Am Waldrand verfiel er in Trab, die Nase dicht am Boden. Unzählige Spuren vermischten sich zu einem verlockenden Teppich, aus dem er sich einen einzelnen Faden herauspicken musste, der ihn zur Beute führte. Er wählte eine weiche Note, sicher noch ein Jungtier. Bald schon hörte er den Herzschlag des Kaninchens, seine Läufe, wenn sie auf den Boden klopften, seine nagenden Zähne, die Gras und Kräuter des Spätherbstes knabberten.
Eloin verharrte, duckte sich auf den Boden und schlich weiter. Er konzentrierte sich auf den Wind, damit sein Geruch ihn nicht vorzeitig verriet. Spitzte die Ohren, um mit den Geräuschen der Nacht zu verschmelzen. Da! Ein Rascheln ganz nah Im Gebüsch. Sein Jagdfieber näherte sich dem Gipfel. Sein Herz schlug kraftvoll gegen die Rippen und jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Nur noch ein paar Schritte, dann konnte er zum Sprung ansetzen.
Die Zweige vor ihm bewegten sich. Er runzelte die Stirn, sein Nackenfell sträubte sich, alles stand auf Angriff. Zu groß für ein Kaninchen. Der Duft veränderte sich, der Wind trug die samtene Note fort und ersetzte sie durch einen schärferen Geruch. Was …
Mit einem Ruck riss der Busch auseinander. Brüllen durchschnitt die Stille wie ein Schuss. Eloin stemmte die Pfoten in den Boden, schob sich rückwärts. Vor ihm ragte ein riesiges Tier auf, dessen Augen wie Quecksilber glänzten. Seine Nasenlöcher weiteten sich, es schnüffelte, nahm seinen Geruch auf. „Gefahr!“, signalisierte sein Instinkt. Er drehte sich um, versuchte mit einem großen Sprung zu fliehen, doch noch im Flug spürte er einen Aufprall an seinen Hinterläufen, der ihn aus der Bahn warf. Er ging zu Boden, überschlug sich. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Während er Sterne vor den Augen tanzen sah, wurde ihm sein Leichtsinn bewusst.
Zum Bereuen blieb keine Zeit. Er hörte das Knurren hinter sich und fauliger Atem breitete sich wie eine Wolke
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