Ruf Des Dschungels
Fayu noch die Knochen ihrer Ahnen in ihren Hütten aufhängten, die Toten uns schlicht mit den Worten »Das hier ist mein Onkel« oder »Das ist mein Bruder« vorgestellt wurden. Der Name oder irgendwelche Ereignisse rund um jene Personen wurden niemals erwähnt.
Eine Sitte, die für die Fayu verhängnisvoll war. Denn dadurch haben sie nicht nur die Erinnerung an die Verstorbenen verdrängt, sondern im Laufe der Jahre auch sämtliche Geschichten und Legenden über ihr Volk, ihr Wissen – ja, die gesamte blühende Kultur, die sie einmal hatten, belegt durch die wenigen noch überlieferten Traditionen.
So erklärt etwa ein Fayu-Vater seinem Sohn nicht, wie man Pfeil und Bogen herstellt, um im Dschungel zu überleben. Auch spricht er mit dem jungen und unerfahrenen Krieger nicht über das, was ihm sein eigener Vater noch überliefert hat. Bei den Fayu lernen die Kinder, indem sie die Erwachsenen beobachten und sich alles Wichtige von ihnen abschauen. Allerdings lassen sich viele Dinge nicht allein durch Abschauen begreifen. Unsere Vorgehensweise hier im Westen, dass wir unsere Kinder durch Schule und Erziehung auf das spätere Leben vorbereiten und ihnen unsere Geschichte nahebringen, ist den Fayu völlig fremd. Bei ihnen haben gerade mal zwei Legenden überdauert, die Papa nur zufällig von Kloru gehört hat. Und damals lebten wir schon mehrere Jahre im Dschungel.
Kloru hatte sie von seinem Großvater, war jedoch nie auf die Idee gekommen, sie an seine Söhne weiterzugeben. Papa hatte die Legenden, von denen später im Kapitel »Bisa und Beisa« noch ausführlich die Rede sein wird, sofort sorgfältig dokumentiert.
Die Fayu leben weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern ausschließlich in der Gegenwart. Das wurde mir schon wenige Tage nach meiner Ankunft wieder deutlich bewusst, da mich niemand danach fragte, wie es mir in den letzten Jahren ergangen war, und auch keiner wissen wollte, wo ich überall gelebt hatte, seit ich West-Papua verlassen hatte. Einzig für meine Kinder interessierten sie sich.
In gewisser Weise hat es seinen Reiz, so zu leben und sich weder über das zu beklagen, was gewesen ist, noch wegen dem zu ängstigen, was noch kommen mag. Andererseits könnte das Leben der Fayu so viel leichter und unkomplizierter sein, wenn sie sich zumindest ein paar Gedanken über ihre Zukunft machen würden. Selbst mit der Aufgabe, einen Garten anzulegen, sind sie hoffnungslos überfordert. Sie hatten Papa einmal vor langer Zeit erklärt, dass es sie zu sehr anstrenge, die nötige Geduld aufzubringen. Sie wollten nicht warten, bis sich aus den Samen Pflanzen entwickelten und es endlich etwas zu ernten gab, und sie wollten sich auch nicht um den Garten kümmern müssen.
Später würde ich mit Bedauern feststellen, dass auch der Garten, den meine Mutter damals mit viel Mühe und Liebe angelegt hatte, dem Dschungel zum Opfer gefallen war. Und die paar Früchte, die tatsächlich noch an den Bäumen wuchsen, wurden von den Kindern geerntet, lange bevor sie reif und damit genießbar waren.
Ich musste schmunzeln, als ich daran zurückdachte, wie meine Mutter deswegen fast verzweifelt war. Wenn sie die Kinder ermahnte, die wieder einmal unreifes Obst von einem der Bäume gepflückt hatten, hieß es in ungläubigem Ton: »Wieso sollen wir warten, bis sie reif sind, wenn wir sie auch jetzt essen können?«
»Jetzt passt mal auf«, erwiderte Mama und versuchte ihnen dann zu erklären, dass sie sich mit dem unreifen Obst sehr unangenehm den Magen verderben konnten, doch sie stieß auf taube Ohren. Die Fayu haben Mägen aus Stahl.
Dabei waren gerade bei den Kindern ernsthafte Mangelerscheinungen nicht zu übersehen. Orangefarbene Haare, aufgeblähte Bäuche und zahlreiche andere Symptome deuteten auf eine unausgewogene Ernährung hin. Mama hatte eigens Ananasstauden gepflanzt, um diesen Mängeln abzuhelfen. Doch die Fayu können sehr stur sein. Ein Bissen, und sie hatten die köstliche Ananas mit der Behauptung, das schmecke ja scheußlich, ausgespuckt und nie wieder angerührt. Von Keksen und anderen Lebensmitteln voller künstlicher Aromastoffe konnten und können sie dagegen nicht genug bekommen. Arme Mama – aber am Ende hatten wir damals alle darüber gelacht.
Ich denke mal, das ist, wie wenn ein Eingeborener einem Europäer lebendige Käfer anbietet und betont, wie gesund und proteinreich die Insekten seien, die er im Übrigen für eine Delikatesse hält. In diesem Fall würde ich wohl auch die
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