Ruf Des Dschungels
setzten wir uns in den Schatten und genossen die Langsamkeit, mit der hier im Dschungel die Zeit verging. Kein Termindruck, kein Verkehrschaos, keine Verabredungen, die eingehalten werden mussten, nur das Zwitschern der Vögel und die Stimmen der Fayu erfüllten die tropische Luft.
Nach ein paar Stunden kam Aron vorbei und fragte mich, ob ich mit ihm auf den Hügel hochwandern wollte, auf dem wir einst gelebt hatten. Ich sah ihn an und schwelgte in dem Luxus, frei entscheiden zu können, ob ich mein schattiges, gemütliches Plätzchen inmitten der Frauen und Kinder verlassen und mich tatsächlich auf den anstrengenden Weg den Hügel hinauf machen sollte. Die Neugier siegte schließlich, und ich willigte ein, Aron zu begleiten.
»Wir gehen bald los«, sagte er noch, bevor er sich abwandte.
Na ja, »bald« konnte hier in West-Papua alles Mögliche heißen, von fünf Minuten bis zu fünf Stunden. Daher setzte ich mich erst einmal wieder hin und schlug weiter nach den Fliegenschwärmen, die ich wie ein Magnet anzuziehen schien.
Das muss mein Duschgel sein,
dachte ich und beschloss, ab morgen darauf zu verzichten.
Eine halbe Stunde später waren alle bereit für unsere kleine Tour.
Als wir im Jahr 1980 zu den Fayu kamen, wohnten wir zunächst in einem Haus direkt am Fluss. Mit der Zeit stieg der Wasserpegel im Dschungel an, was immer wieder Überschwemmungen zur Folge hatte. Irgendwann begannen die Holzdielen unseres Hauses zu faulen. Und als Papa eines Tages buchstäblich durch den Boden brach, beschloss er, es sei an der Zeit, in höhere Regionen umzuziehen. Er traf sich mit den Häuptlingen, und wir erhielten von ihnen die Erlaubnis, an den Ort umzusiedeln, den heute alle den Foida-Hügel nennen. Dank der phantastischen Aussicht über die Wälder waren wir von unserem neuen Domizil bald hellauf begeistert.
Einige Jahre später – meine Geschwister und ich hatten die Fayu längst verlassen, um unsere Ausbildung im Westen fortzusetzen – entschlossen sich meine Eltern, erneut umzuziehen. Mit zunehmendem Alter wurde ihnen der lange Weg den Hügel hinauf zu anstrengend. Damals bauten sie dann das kleine Haus an der Dschungelbrücke. Als ich Papa fragte, warum sie es so dicht an der Brücke errichtet hatten, erklärte er mir, dass er so stets darüber informiert sei, wer komme und wer gehe.
Ich brach daraufhin in schallendes Gelächter aus und dachte mir, dass aus Papa ein waschechter Fayu geworden war: extrem neugierig, immer daran interessiert, was die anderen taten und wie der aktuelle Stand der Dinge war.
Papas Haus direkt an der Dschungelbrücke
Auf unserem Weg durch das Dorf blieben Aron und ich immer wieder an einzelnen Hütten stehen und begrüßten die Bewohner. Plötzlich blieb mein Blick an einer Frau hängen, die ich noch nicht kannte, und beim Näherkommen merkte ich, dass sie einen Säugling im Arm hielt. Ich trat auf sie zu, und wir rieben unsere Stirnen aneinander. Dabei sah ich, dass das Kind auf ihrem Arm ein Neugeborenes war, und als ich nachfragte, bestätigte sie, dass die Geburt gerade mal drei Tage her war. Ich war gerührt und begeistert und eilte sofort zu Papas Haus zurück, um das zu tun, was Mama früher immer getan hatte.
In der Zwischenzeit warteten Aron und die Kinder, die uns begleiteten, geduldig auf meine Rückkehr, gespannt, was ich wohl vorhatte.
Aus Erfahrung wusste ich, dass die Fayu-Frauen kurz nach der Geburt eines Kindes alles andere als verwöhnt wurden. Daher bereitete ich schnell eine warme Mahlzeit aus Nudeln und Dosenfleisch zu. Während ich noch eine Decke, ein Handtuch und Seife zusammensuchte, rief ich eines der Kinder herbei, damit es mir beim Tragen half. Gemeinsam brachten wir anschließend alles zu der Hütte der jungen Mutter.
Als sie den Teller mit Essen und die anderen Sachen in unseren Händen sah, weiteten sich ihre Augen vor Verwunderung. Stumm dankte sie mir. Im Gehen sah ich, wie sie sich über den Teller beugte und das Essen in atemberaubender Geschwindigkeit in sich hineinschlang. Auf einmal wurde mir bewusst, wie sehr die Frauen hier Mama vermissen mussten.
Bei unserem Weg den Hügel hinauf kamen wir auch an dem Pfad vorbei, der zu den Gräbern führte. Lieder zum Gedenken an die Verstorbene erfüllten die feuchte Luft, die Fayu hatten ihre Trauergesänge wieder aufgenommen. Einen Moment lang war ich versucht, näher heranzugehen, aber ich war nicht sicher, ob das angemessen war. Ich beschloss, nach unserer Rückkehr lieber erst Papa zu
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