Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
allem?»
    «Also, ich bin ein Skeptiker, kein Ungläubiger durch und durch – noch nicht, jedenfalls. Gurney und Myers – haben Sie von ihnen gehört? – haben einige sehr bemerkenswerte Fälle gesammelt. Sie untersuchen Personen, die behaupten, die Erscheinung eines Freundes oder Verwandten im Moment von dessen Tod gesehen zu haben. Aber bewiesen ist noch nichts. Und Sie, Miss Langton? Was glauben Sie?»
    «Ich weiß nicht, was ich glaube, aber   –» Ich beschloss, das Risiko in Kauf zu nehmen – «meine Schwester starb, als ich fünf Jahre alt war, und meine Mutter vergeht seither vor Kummer. Ehrlich gesagt, Mr   Raphael, wenn ich ein Medium finden könnte, das meine Mutter davon überzeugt, dass Alma sicher im Himmel ist, dann würde ich ihr diesen Trost wünschen. Und so fragte ich mich – ob es jemanden gibt, den Sie empfehlen können.»
    «Meine Aufgabe ist, Miss Langton» – er klang eher amüsiert als empört   –, «Betrüger bloßzustellen, nicht, sie zu empfehlen.»
    «Das ist alles gut und schön für Sie, Mr   Raphael, der Sie gescheit sind und mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, aber nicht für jemanden wie meine Mutter, die schlicht erdrückt wird vom Gewicht des Kummers. Warum sollte man ihr den Trost vorenthalten, den eine Séance bringen kann?»
    «Weil es ein falscher Trost ist.»
    «Das ist eine harte Auffassung, Mr   Raphael, das Credo eines Mannes, wenn ich so sagen darf. Haben Sie nie gelogen oder geschwiegen, um die Gefühle anderer zu schonen? Wenn Sie zum Beispiel einen Bruder verloren hätten und Ihre eigene Mutter vor Gram gebrochen gewesen wäre, würden Sie strikt darauf bestehen – wie mein Vater es tat   –, dass sie keinen Trost in Séancen suchen dürfe?»
    Er sah, das sei ihm zugestanden, ein bisschen beschämt aus.
    «Ich gebe zu, Miss Langton, dass ich sie schwerlich verdammen würde. Aber, um die andere Seite der Medaille zu betrachten: Wie steht es um solche Medien, die ohne Skrupel – des materiellen Gewinns wegen – die Hinterbliebenen zum Besten halten? Denken Sie, dass man sie frei gewähren lassen sollte?»
    «Wohl nicht», sagte ich zögernd. «Aber es sind nicht alle so.»
    «Sie sprechen offensichtlich aus Erfahrung.»
    «Nur wenig   … Es gibt also niemanden, den Sie empfehlen können?»
    «Miss Langton, offensichtlich braucht Ihre Mutter die Hilfe eines Arztes, nicht eines Mediums.»
    «Einen Arzt hat sie seit zwölf Jahren», sagte ich, «was ihr offensichtlich nicht im Geringsten geholfen hat.»
    «Ich verstehe   … Das Problem, Miss Langton, ist: Wenn ich Sie an jemanden verweise, von dem bekannt oder auch nur anzunehmen ist, dass er ein Schwindler ist, würde ich meine Pflicht für die Gesellschaft vernachlässigen. Außerdem   … Miss Carver gilt gemeinhin als die Beste in London; Sie haben selbst gesehen, mit welchem Feuereifer ihre Bewunderer sie verteidigen.»
    «Aber nach dem heutigen Nachmittag ist ihr Ruf doch für immer dahin», sagte ich.
    «Keineswegs», sagte er fröhlich. «Es wird einen Aufruhr in der spiritistischen Presse geben, und einige ihrer Gefolgsleute werden sich abwenden, aber die werden von neuen ersetzt werden. Das gehört alles zum Spiel.»
    «Glauben Sie?»
    Seine Antwort ging in den Rufen eines Straßenverkäufers unter. Der Verkehr nahm zu; wir näherten uns der Oxford Street.
    «Miss Langton», sagte er. «Ich war auf dem Weg zur Gesellschaft in Westminster, aber darf ich Sie nach Hause begleiten – wenn das Ihr Ziel ist?»
    «Nein, danke. Ich bin es gewohnt, alleine zu gehen.»
    «Dann – darf ich hoffen, Sie wiederzusehen?»
    «Es tut mir leid», sagte ich, «aber das ist unmöglich. Leben Sie wohl, Mr   Raphael.»
     
    ∗∗∗
     
    Ich kam mit dem festen Entschluss nach Hause, von dem Sichtbarmachen von Geistern nichts mehr wissen zu wollen. Aber ein Blick auf meine Mutter, die bei zugezogenen Vorhängen zusammengekauert auf dem Sofa im Wohnzimmer saß, genügte, um mich umzustimmen. Vernon Raphael würde jedenfalls nicht mehr zu Miss Carvers Kreis zugelassen werden, und angesichts Mamas Verzweiflung, die das Haus wie ein Miasma erfüllte, wurde mir klar, dass ich nichts zu verlieren hatte. So kehrte ich am nächsten Tag in die Marylebone High Street zurück. Miss Lester, so dachte ich, hatte mein Gehen nicht bemerkt und nahm gnädig meine Sympathiebekundungen für Miss Carver entgegen, zusammen mit drei Guineen – meine gesamten Ersparnisse – für die spiritistische Sache. Ich erzählte ihr von

Weitere Kostenlose Bücher