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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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Velourssamt, eher unpassend, und eine graue Flanellhose mit einem Streifen Farbe an einem Knie. Er schien zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt zu sein. Er hatte eine Halbglatze, die von einer Mähne grau-brauner Haare umgeben war, lang und ungeordnet an den Seiten, sodass seine Ohren darunter beinahe verschwanden. Ein krauser Backenbart und ein dicker Schnurrbart versteckten seinen Mund und das meiste seiner Wangen. Er hatte dunkelbraune Augen, umgeben von Falten, und seine Haut – sofern sie sichtbar war – war wettergegerbt von der Sonne.
    «Miss Langton? Mein Name ist Frederick Price, und ich glaube, ich bin Ihr Onkel. Ich sah die Traueranzeige für meine Schwester, Ihre Mutter, in der
Times
und bin gekommen, Ihnen mein Beileid auszusprechen.»
    Ich sah ihn verwundert an. Jetzt konnte ich eine entfernte Ähnlichkeit mit meiner Mutter feststellen.
    «Vielen Dank, Sir. Mein Vater wird leider erst spät zurückkommen – er ist wenig zu Hause. Möchten Sie eine Tasse Tee?»
    «Ich möchte Sie wirklich nicht stören in einer so traurigen Zeit.»
    «Sie stören mich gar nicht», sagte ich. Seine Stimme war tief und klang ein bisschen zögerlich, und etwas in ihrem Klang sprach mich an. «Ich hätte nichts gegen etwas Ablenkung von meinen Gedanken.»
    «Es mag Sie verwundern, dass wir uns nie begegnet sind», sagte er. «Nachdem Ihre Mutter geheiratet hat, habe ich den Kontakt verloren. Ich hatte keine Ahnung, dass sie in London lebte, bis ich kürzlich die Anzeige sah. Und – um ehrlich zu sein, wir standen einander nie sehr nah, auch weil ich sie so selten sah. Wissen Sie, ich stritt viel mit meinem Vater. Er wollte, dass ich predige, ich wollte malen, und es endete damit, dass er mich aus seinem Testament strich und ich mich nach Italien absetzte, bevor ich einundzwanzig war. Die arme Hester musste sich um ihn kümmern, und es wird ihr nicht gefallen haben – wer könnte ihr das verübeln? – Als mein Vater dann starb, konnte ich nicht nach Hause kommen, oder tat es zumindest nicht. Im letzten Brief, den ich von ihr erhielt, teilte sie mir ihre Verlobung mit, und ich hoffte, sie würde endlich glücklich   … Und dann kam ich, 1875, nach London zurück, bezog ein Haus in St John’s Wood, wo ich seither mein Atelier habe, nicht ahnend, dass keine drei Meilen von dort entfernt meine Nichte lebt.»
    «Und ich wusste nicht, dass ich einen Künstler zum Onkel habe.»
    «Eher einen Hansdampf in allen Gassen, sollte ich sagen. Ich war – lassen Sie mich überlegen – Illustrator – was den Großteil meines Lebensunterhalts ausmacht   –, Kopist, Graveur, Zeichner und Restaurator sowie Maler von allerlei   … War es eine lange Krankheit? – Ihre Mutter, verzeihen Sie.»
    «Ja, aber nicht, wie Sie denken   … die Wahrheit ist   …» Und damit war ich in meine Geschichte gestolpert. Er hörte ernst zu, selbst als ich zu den Séancen kam, zeigte er keine Überraschung,und irgendwie gelang es mir, bis zum Ende zu kommen, ohne zusammenzubrechen.
    «Und sehen Sie, Sir – obwohl mein Vater nichts davon weiß   –, ich bin die Ursache für den Tod meiner Mutter.»
    «Sie urteilen zu hart über sich», antwortete er. «Nach allem, was Sie sagen, ist es ein Wunder, dass sie ihrem Leben nicht schon lange zuvor ein Ende gesetzt hat. Sie haben ihr eine Wohltat erwiesen. Dafür sollten Sie sich keine Vorwürfe machen.»
    Ich weinte, merkte aber, dass ihm das unangenehm war, und so fasste ich mich, so schnell ich konnte.
    «Und nun», sagte er, «ziehen Sie mit Ihrem Vater zu Ihrer Tante nach Cambridge?»
    «Ich habe sie nie gesehen. Sie wollen mich dort nicht, und ich würde sehr viel lieber nicht gehen, aber ja, ich muss.»
    «Ich verstehe», sagte er und schwieg einige Zeit.
    «Constance – mit Verlaub   –», sagte er schließlich. «Ich bin ein Junggeselle – und ich kenne mich gut genug, um von mir zu sagen, dass ich ein selbstsüchtiger Mensch bin. Ich mag die Ruhe und Bequemlichkeiten und die Gewissheit, nach dem Frühstück in mein Atelier gehen zu können und die nächsten zehn Stunden nicht gestört zu werden. Ich habe eine Köchin und ein Dienstmädchen, beides großartige Frauen, aber manchmal nerven sie mich mit Fragen. Nun, wenn ich jemanden hätte, der mir den Haushalt führt, der meine Vorlieben und Abneigungen kennt und ein Auge darauf hat, dass alles seinen Gang geht – sagen wir eine junge Frau, ruhig und zurückhaltend   –, und insbesondere, wenn ihr Vater nichts dagegen hätte, für
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