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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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meiner Mutter und fragte, ob es wahr sei, dass sich Geister in unterschiedlichem Alter manifestieren könnten. Wenn nur, sagte ich wehmütig, Mama Alma halten könnte, wie sie es in deren Kindheit getan hatte, dann könnte sie endlich ihren Frieden finden. Miss Lester fragte mich unter anderem, ob ich mich daran erinnern könne, welches Parfüm Mama benutzt hatte, als Alma noch bei uns war. Parfüm, so sagte sie,konnte sehr hilfreich sein bei der Heraufbeschwörung von Geistern. Aber natürlich, fügte sie hinzu, wolle Miss Carver sich mit meiner Mutter vor der Séance treffen. Mr   Raphaels schändlicher Betrug habe ihre Gesundheit gefährdet, und so müssten sie vor Störenfrieden leider auf der Hut sein.
    Um acht Uhr abends am folgenden Samstag saß ich neben meiner Mutter in Miss Carvers Séance-Zimmer; insgeheim studierte ich die Gesichter der Anwesenden um den Tisch herum. Ich hatte Mama von der Notwendigkeit zu überzeugen versucht, dass, um Miss Veasey nicht zu verletzen, dieser Besuch ein Geheimnis bleiben müsse, aber ich war nicht sicher, ob sie das verstanden hatte. So schaute ich zu, wie die letzten Teilnehmer zu ihren Plätzen geführt wurden, mit dem Gefühl, einem Kartenhaus ein Stockwerk zu viel hinzugefügt zu haben.
    Miss Carver wurde an ihren Stuhl gebunden wie vormals. Miss Lester zog die Vorhänge zu und forderte uns auf, uns an den Händen zu fassen und «Lead, Kindly Light» zu singen, und als die Lichter gelöscht wurden, fühlte ich die Hand meiner Mutter in der meinen zittern. Wir hatten gerade das Ende des dreiundzwanzigsten Psalms «The Lord is My Shepherd» erreicht, als ein schwacher Schimmer Arabellas Erscheinen ankündigte. Der Gesang verstummte; ich hörte das Knarren von Stühlen und schnelleres Atmen; aber dieses Mal blieb das Licht formlos, schwebte wie ein Irrlicht in der Leere. Nach einigen Sekunden begann es, sich von mir wegzubewegen, einmal, so dachte ich, dem Tischrund folgend. Allerdings hätte ich in dieser kompletten Dunkelheit nicht mitbekommen, wenn sich die Wände um uns herum aufgelöst hätten.
    Dann, von irgendwoher über meinem Kopf, begann eine Stimme zu singen in einem dünnen, piepsenden Singsang, zur Melodie von «All Things Bright and Beautiful». Ich hatte Miss Lester von Almas Gesang erzählt, aber mich schauderte, und die Hand meiner Mutter zuckte krampfartig.
    «Alma», schrie sie.
    Der Gesang verstummte, und der Duft von Veilchenwasser strömte zu uns herab. Es war ein Parfüm, das meine Mutter seit Almas Todestag nicht mehr benutzt hatte. Der schwache Lichtfleck bewegte sich, wurde heller und schien sich uns gegenüber am Tisch gleich einer Blume in die strahlende Gestalt Arabellas zu entfalten. Dieses Mal wiegte sie etwas in ihren Armen. Begleitet von einem Murmeln des Erstaunens, glitt sie durch das Zimmer, bis sie direkt hinter uns stand.
    «Alma ist vom Himmel gekommen, um ihre Mama zu trösten», sagte eine Frauenstimme aus dem Dunkel über uns, «aber sie kann nur kurz bleiben.»
    Der Duft von Veilchenwasser verstärkte sich. Meine Mutter hatte bereits meine Hand losgelassen. Ich konnte nur ihre Umrisse sehen. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um, streckte ihre Arme nach der kleinen, schimmernden Gestalt aus, die sich leicht bewegte, als meine Mutter sie in die Arme nahm. Es war nicht bloß eine Puppe, sondern ein wirkliches Kind in hellen Windeln. «Alma», murmelte sie, «endlich, endlich, endlich.» Jemand weinte in der Dunkelheit. Tränen traten mir in die Augen, und ich musste mich zurückhalten, Miss Carver nicht meinen Dank zuzuflüstern. Als sie sich zwischen uns niederbeugte, konnte ich die Wärme ihres Körpers spüren. So verharrten wir vielleicht zwanzig Sekunden, ehe Miss Carver ihre Arme wieder ausstreckte. Zu meiner Überraschung gab meine Mutter ihr das Kind anstandslos, mit einem tiefen Seufzer zurück, der rund um den Tisch ein Echo fand, als die schimmernde Figur sich umdrehte, zurückwich und im Dunkel verschwand.
    Meine Mutter lächelte und weinte abwechselnd, als wir heimwärts fuhren, und dankte mir wieder und wieder. «Endlich», sagte sie immer wieder, «endlich kann ich in Frieden ruhen.» Ich erinnere mich daran, wie ich Lettie umarmte, als sie uns die Tür öffnete. Ich erinnere mich auch daran, dassich rätselte, wie um alles in der Welt ich Mama davon abhalten sollte, den anderen Mitgliedern in Lamb’s Conduit Street davon zu erzählen, und ob ich es überhaupt versuchen sollte. Vielleicht brauchten wir nun keine

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