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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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ihren Unterhalt aufzukommen, weil ich offen gestanden nicht sonderlich gut bei Kasse bin   … Es wäre keine schwierige Aufgabe, und das Haus ist groß genug, sodass du deine eigenen Bereiche haben könntest   …»
     
    Eine Woche später war ich im Hause meines Onkels im Elsworthy Walk einquartiert. Ich war so erleichtert, nicht nach Cambridge gehen zu müssen, dass ich selbst über ein Bett in einem Keller glücklich gewesen wäre. Mich in einem Zimmer im obersten Stock wiederzufinden, das nach Osten hinausging und von dem aus die Hügel von Primrose Hill zu sehen waren, schien geradezu ein Wunder. Der Esstisch war immer von Büchern und Papier übersät. Für meinen Onkel bestand Bequemlichkeit darin, alles genau dort stehen- und liegenzulassen, wo er wollte. Er konnte – zu unser beider Wohlgefallen – eine ganze Mahlzeit über lesen: Manchmal ging ein ganzer Tag dahin, ohne dass wir mehr als einen Morgen- und einen Gutenachtgruß austauschten. Zuerst fürchtete ich, ich könne das Haus nicht verlassen, ohne jemanden von Mrs   Veaseys oder Miss Carvers Zirkel zu treffen. Aber ich begegnete nie jemandem; und mein Onkel kam nie wieder auf die Séancen zu sprechen. Anstelle des Waisenhauses hatte ich jetzt Primrose Hill, und in diesem Herbst saß ich oft am Fenster und sah den Kindern beim Spielen zu, was mir einen eigentümlichen Trost spendete.
    Aber selbst in dieser ruhevollen Umgebung dauerte es viele Monate, ehe die Last der Schuld und der Selbstvorwürfe geringer wurde, und nur, um einer zunehmenden Unruhe Platz zu machen. Meine Aufgaben im Haushalt waren in der Tat alles andere als schwierig, sodass ich viel Zeit zur freien Verfügung hatte. Mein Onkel, so wurde mir bald klar, schreckte vor jeder emotionalen Regung zurück. Ich glaube nicht, dass eine grundsätzliche Kälte die Ursache dafür war, vielmehr fürchtete er den Effekt, den eine solche Regung auf ihn haben könnte. Durch gewisse Bemerkungen, die er manchmal fallenließ, vermutete ich, dass sein Gewissen ihn manchmal plagte, weil er seine Familie vernachlässigt hatte, vor allem meine Mutter, die er leicht hätte ausfindig machen können, und dass es für ihn so etwas wie eine Wiedergutmachung war, mich aufgenommenzu haben. Es schien ihm zu gefallen, mich im Haus zu haben. So hatte er jemanden zum Reden, wenn ihm der Sinn danach stand, und konnte sich seinen eigenen Gedanken hingeben, wenn nicht. Und sollte er meine Sorgen spüren, so ließ er es sich nicht anmerken.
    Ich hätte ihm ohnehin keinesfalls sagen können, was mich umtrieb. Ich war die Einsamkeit gewohnt und vermisste nicht – oder glaubte, nicht zu vermissen – die Gesellschaft von Gleichaltrigen. Ich hatte kein besonderes Talent, keine Ambitionen, und ganz sicher verspürte ich keinen Drang zu heiraten. Und doch gab es da
irgendetwas,
wonach ich mich sehnte, ein namenloses, gesichtsloses Verlangen, das sich nur durch stundenlange Spaziergänge bei jedem Wind und Wetter lindern ließ, bis ich jede Straße in dem Bezirk kannte, alle Wege zum Rand von Hampstead, wo an die Stelle von Häusern Feldwege und Wiesen traten. Aber nach Holborn kehrte ich nie zurück.
    Letztlich fand ich eine Anstellung als Hauslehrerin für die Kinder eines gewissen Captain Tremenheere, der bei der Royal Horse Artillery in den Kasernen von Ordnance Hill diente. Mein Onkel war deshalb ein wenig verärgert, woraufhin ich ihn daran erinnerte, dass mein Vater bald keinen Unterhalt mehr zahlen würde und dass ich nicht auf seine Kosten leben konnte. Mit der Beschäftigung ging es mir besser, ich begann an meinen drei Schülern zu hängen, und doch blieb die Rastlosigkeit. Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ich schlafwandelnd meine Tage verbrachte und nur darauf wartete, dass mein wirkliches Leben – was immer das sein mochte – begänne.
    Im Frühjahr 1888 starb mein Vater unerwartet an einem Schlaganfall. Ich erhielt die Nachricht von meiner Tante, die mir schrieb, er habe alles ihr hinterlassen zusammen mit der Anweisung, für meinen Unterhalt aufzukommen, bis ich im Januar des nächsten Jahres volljährig wäre. Sie lud mich nicht ein, zur Beerdigung zu kommen, und ich verspürte nicht denWunsch hinzufahren. Ich wusste, dass ich ihm nichts bedeutet hatte, und trauerte, glaube ich, mehr darum, dass ich selbst nichts fühlte, als um den Mann, den ich kaum gekannt hatte.
    Der folgende Sommer war so kalt und nass, dass er kaum diesen Namen verdiente, und der Herbst wurde überschattet von den
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