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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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standen größtenteils keine Möbel; jeder schien seine eigene kleine Treppe zu haben, zwei oder drei Stufen aufwärts oder abwärts, und die Flure verliefen entsprechend auf unterschiedlichen Ebenen. Obgleich das Haus nicht unheilverkündend war, wuchs sich meine Angst um den Edelstein bis ins Unerträgliche aus.
    Dann fiel mir ein, dass ich noch nicht im Esszimmer nachgesehen hatte. Der Gedanke führte schlagartig zu einer schwindelerregenden Veränderung der Szenerie. Das Licht wurde zu einem gedämpften, trüben Braun. Ich stand in der Tür zu dem Zimmer, in dem wir heute Abend gegessen hatten. Die Vorhänge waren zugezogen, die Kerzen waren gelöscht, der Raum schien leer; aber als ich zum Tisch schlich, sah ich über der Lehne des Stuhls, auf dem George gesessen hatte, den dunklen Umriss eines Kopfes. Irgendwie wusste ich, dass es der Kopf von Doktor Wraxford war. Ich hätte mich noch leise davonstehlen können. Aber vielleicht war der Edelstein in das Sitzkissen meines Stuhls gefallen, und wenn ich mich auf Zehenspitzen noch ein Stückchen vorwagte, würde ich ihn sehen können. Ich stand zwei Fuß von der bewegungslosen Gestalt entfernt, als ich eine Stimme hinter mir von der Tür her vernahm. Das Wort klang wie ein Gong, wurde immer lauter, bis es zu meinem eigenen Schreien wurde, «Nein!». Ich erwachte in der Morgendämmerung und fand mich am oberen Ende der Treppe stehen.
     
    ∗∗∗
     
    Unsere Gäste waren über Nacht geblieben, aber ich wollte ihnen nicht noch einmal begegnen, und so blieb ich in meinem Zimmer, bis sie abgefahren waren. Ich hatte Ada von meinemTraum erzählen wollen, vielleicht auch vom Schlafwandeln. Aber alle Gedanken waren wie weggewischt von einem Telegramm meiner Mutter, das nur drei Worte enthielt: «Komm sofort zurück.» Mir war fraglos klar, dass ich mich mit ihr auseinandersetzen musste, und bat Ada, alle meine Sachen in dem Pfarrhaus lassen und noch am selben Abend zurückkehren zu dürfen, sofern die Züge es erlaubten.
    «Aber dann stehen wir mit ihr in offenem Streit», sagte Ada, «und sie könnte dem Bischof schreiben. George würde seinen Lebensunterhalt verlieren, ungeachtet der Unwahrheit ihrer Vorwürfe.»
    «Dann muss ich einen Weg finden, sie davon abzuhalten», sagte ich. «Was sie am meisten fürchtet, ist, Arthur Carstairs zu verlieren. Egal was geschieht, werde ich nie wieder bei ihr leben; wenn ich nicht bei euch bleiben kann, dann werde ich mir eine Anstellung suchen. Lieber werde ich Zimmermädchen, als dass ich wieder bei meiner Mutter lebe.»
    «Du weißt nicht, was du da sagst», entgegnete Ada. «Aber natürlich kannst du zu uns zurückkommen. Und vielleicht wird es nicht so schlimm, wie du fürchtest.»
     
    Auf dem Weg nach London spielte ich jede erdenkliche Drohung durch, die Mama ausstoßen könnte, und fragte mich, wie ich sie beantworten würde. Aber als der Wagen Highgate Hill hinaufrumpelte, fühlte ich mich in keiner Weise gewappnet gegen die bevorstehende Qual. Außerdem realisierte ich, dass hier, so schön Highgate war, nicht mehr mein Zuhause war. Ich dachte an meinen Vater, der einige hundert Meter entfernt begraben lag. Wobei er natürlich nicht dort war, sondern nur seine sterblichen Überreste. Und wenn er nicht einfach aufgehört hatte zu sein, wo war dann sein Geist? – Dieser Gedanke erinnerte mich an die Visitationen und daran, dass ich in der vergangenen Nacht nach mehreren Monaten erstmals wieder geschlafwandelt war, und an die Drohung meiner Mutter, micheinzusperren. Endlich stieg ich vor der vertrauten schwarzgestrichenen Tür aus, so sehr zitternd, dass ich kaum stehen konnte.
    Ein Dienstmädchen, das ich noch nie gesehen hatte, führte mich durchs Wohnzimmer in den Salon am anderen Ende, in dem meine Mutter saß und mich erwartete. Sie wies wortlos auf einen Stuhl, ihrem gegenüber, als wäre ich ein ungehorsames Kind, das es nun zu bestrafen gelte. Sie trug ein Kleid aus schwarzem Crêpe, sodass ich mich für einen Moment fragte, ob ein Verwandter gestorben war. Ihr mattes Haar war noch strenger als gewöhnlich zurückgebunden, was ihre Wangenknochen stark hervortreten ließ. Als sich die Tür hinter dem Dienstmädchen schloss, sah ich, dass meine Mutter meinen Brief zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hielt.
    «Soll ich annehmen», sagte sie und wedelte mit dem Brief, als wäre ihr die bloße Berührung zuwider, «dass du dir in den Kopf gesetzt hast, uns alle zu ruinieren?»
    «Nein, Mama   –»
    «Dann

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