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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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dann hätte ich ihr wohl davon erzählt. Aber so schob sie meine Angst und Niedergeschlagenheit natürlich auf den Streit mit meiner Mutter. Die Erscheinung erwähnte ich in meinem langen Brief an Edward mit keinem Wort, und ich verbrachte eine Reihe von Tagen mit einem unguten Gefühl – er hatte mich gewarnt, dass er ein schlechter Briefeschreiber sei   –, ehe eine vergnügte Nachricht aus Cumbria meine schlimmsten Ängste vertrieb. Alles sei in bester Ordnung, schrieb er. Er war sich sicher, dass sein Vater uns seinen Segen geben würde und dass meine Mutter sich mit der Zeit «wieder beruhigen» würde. «Ich habe ein neues Bild begonnen», schrieb er, «das mir große Hoffnungen macht. Es können weitere vierzehn Tage sein, ehe ich dich wiedersehe, meine Geliebte. Bitte, schreibe mir jeden Tag und verzeih mir, dass ich es nicht tue – ich werde es wettmachen, wenn ich wieder bei Dir bin.»
    Für Ada, die ihrer Mutter und ihren Schwestern immer herzlich verbunden gewesen war, war der Gedanke an ein endgültiges Zerwürfnis beinahe unfassbar.
    «Du musst versuchen, mit ihr ins Reine zu kommen, Nell», sagte sie eines Tages, als wir vom Dorf zurückkehrten. «Es wäre schrecklich, wenn du deine Mutter für immer verloren hättest, egal, was zwischen euch vorgefallen ist.»
    «Aber sie hat mich dazu gezwungen, zwischen ihr und Edward zu wählen», sagte ich. «Blutsbande sind nicht der stärkste Bund – es klingt eigenartig, wenn man es so ausdrückt, aber Sophie und ich waren einander seit Kindertagen nicht nahe, und für Mama war ich nie etwas anderes als eine Enttäuschung. Was ich wirklich befürchte, ist, dass sie sich an den Bischof wendet, wenn Sophie erst verheiratet ist. Ich würde mir das nie verzeihen, wenn George seine Stelle wegen mir verlöre.»
    «Ich glaube nicht, dass sie das tun wird», sagte Ada. «Einen Skandal herbeizuführen wäre auch nach der Hochzeit peinlich für Sophie. Du musst zugeben, Nell, dass ihr Wunsch, ihr möget beide eine gute Partie machen, gesellschaftlich betrachtet nicht unverständlich ist. Schau mich nicht so an, du weißt sehr gut, wie ich das meine. Ich weiß, wie schwierig sie sein kann, aber ich hoffe doch, dass ihr euch versöhnen werdet. Wenn mir und George etwas passierte   –»
    «Aber du sagtest doch gerade erst, dass du nicht glaubst, dass sie Schwierigkeiten machen wird», entgegnete ich unsicher. «Und ich würde lieber bei Wasser und Brot mit Edward in einer armseligen Hütte leben, als zu Mama zurückzukehren, selbst wenn sie mich wieder aufnähme.»
    «Du würdest nicht so leichthin von armseligen Hütten sprechen, wenn du ein Kind hättest», sagte Ada ruhig. «Was ich sagen wollte, war: Nimm einmal an, du wärst ganz allein, dann würdest du diese Entfremdung bitter bereuen.»
    Ich dachte an ihren Kummer und wechselte das Thema, aber ich fragte mich unwillkürlich, ob Ada meinte, ich hätte meine Mutter allzu harsch behandelt. Ich konnte mir hingegen nicht vorstellen, was ich anderes hätte tun können, ihretwegen genauso wie um meiner selbst willen, und so hing die Frage wie einunausgesprochener Vorwurf zwischen uns. Das war vielleicht der Grund dafür, dass ich am nächsten Nachmittag unser Ritual eines gemeinsamen Spaziergangs brach und mich allein aus dem Haus stahl.
     
    Obgleich wir immer noch Hochsommer hatten, war die Luft kühl und feucht bei stahlgrauem Himmel. Ich ließ meine Füße gehen, wohin sie wollten. Das war nach Süden, wie sich zeigte, der Weg, den George uns geführt hatte, an dem Tag, als wir Edward erstmals getroffen hatten. In meine Gedanken versunken, bemerkte ich erst, wie weit ich gegangen war, als der Pfad anzusteigen begann. Der Mönchswald lag gleich hinter dem Hügel. Stechginster und Grasbüschel erstreckten sich in alle Richtungen, es gab kein Lebenszeichen, kein Geräusch außer dem weit entfernten Blöken von Schafen und den Schreien eines Vogels. In Georges und Adas Gegenwart war mir die Einsamkeit pittoresk erschienen; nun fühlte ich mich plötzlich klein und fremd in dieser Landschaft.
    Als ich stehen blieb und mich fragte, ob ich weitergehen oder umkehren solle, erschien ein Reiter auf dem Hügelkamm vor mir und hielt an, als betrachte er die Aussicht. Zu meinem Schrecken machte er kehrt und begann, direkt auf mich zuzureiten. Ratlos, was ich tun sollte, blieb ich unbeweglich stehen. Ich bekam heftiges Herzklopfen, als das Pferd näher kam, bis sich die Gestalt im Sattel erst als ein großer Mann mit

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