Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
ich tastete mich zur Tür, fand den Korridor beleuchtet und stellte fest, dass es beinahe halb neun war. Ich rannte nach unten, um mich zu den anderen zu gesellen. Dort traf ich nur auf George und Ada, die am Fenster standen. Adas Gesichtsausdruck gab mir sofort zu verstehen, dass Edward gegangen war.
    «Er brach auf, kurz nachdem du nach oben gegangen warst. Ich sagte ihm, dass du dich entsetzlich sorgen würdest, aber er war nicht zu halten. Er hoffte, dass du bis zum Morgen durchschlafen würdest und er zurück wäre, ehe du aufwachst.»
    «Wenigstens», sagte George, «wird er Wraxford Hall lange vor Ausbruch des Gewitters erreicht haben. Bei seinem Tempo müsste er dort so gegen halb sechs angekommen sein. Er wird dort Schutz vor dem Unwetter gefunden haben. Du musst versuchen, nicht   –»
    Der Rest seiner Antwort wurde von blendenden Blitzen und krachenden Donnerschlägen direkt über dem Haus verschluckt. Ununterbrochen zuckte Blitz nach Blitz auf, schlugDonnerschlag nach Donnerschlag über uns herein, dass man fürchten musste, das Dach würde jeden Augenblick einbrechen. Es war für einige Zeit unmöglich zu reden, bis nach und nach die Blitze seltener wurden und der Wind nachließ, bis nur mehr das stetige Rauschen eines alles durchweichenden Regens zu vernehmen war.
     
    Die Nacht ging unglaublich langsam vorüber. Im ersten Morgengrauen ging ich wieder nach unten. Der Regen hatte aufgehört, die Luft war kühl, feucht und roch nach Laub. Die abgerissenen Äste und Zweige, das herabgefallene Laub waren über den ganzen Garten verstreut und gaben ihm den Anschein eines Trümmerfeldes, in dem sich mehrere Wasserlachen gebildet hatten.
    George kam nur wenig später hinunter in Regenmantel und Gummistiefeln.
    «Ich fahre nach Wraxford Hall, um ihm den Rückweg zu ersparen», sagte er.
    «Ich komme mit.»
    «Nein, du musst hierbleiben für den Fall, dass ich ihn verpasse.»
    Eine Viertelstunde später war er fort. Ada kam herunter. Sie versuchte, vergnügt und sorglos zu wirken, aber ihre Blässe verriet, dass auch sie nicht geschlafen hatte. Es schlug sechs, dann sieben, dann acht. Um neun Uhr hielt ich es nicht mehr aus und sagte Ada, dass ich wenigstens ins Dorf gehen wolle. Aber noch vor der Kirche hörte ich Hufgetrappel. Georges Pferdewagen kam den Hügel hinunter auf mich zu. George war allein, und sein Blick verriet mit sofort, dass es keine Hoffnung gab.
     
    ∗∗∗
     
    Drei Tage später wurde Edward auf dem St-Mary’s-Kirchhof zur letzten Ruhe gebettet. George hatte ihn am Fuß der Seitenmauer gefunden; er hatte direkt unterhalb der Leitung gelegen, die die Blitzableiter mit der Erde verband. Den Ranzen mit seinen Malutensilien hatte er umgehängt. Er musste versucht haben, an der Leitung die Mauer hochzuklettern, vermutlich lange bevor das Unwetter begann, und zu Tode gestürzt sein. Aber warum er das getan hatte, konnte niemand sagen. Edward hatte kein Testament, und so gingen die wenigen Dinge, die er besaß, auch seine Bilder, an seinen Vater, der von der Nachricht so getroffen war, dass er nicht einmal an der Beerdigung teilnehmen konnte.
    In meiner Erinnerung sind die nachfolgenden Wochen ein einziger dunkler, trockener Abgrund. Ich konnte nicht weinen, noch nicht einmal an seinem Grab, und wünschte nichts mehr als meinen eigenen Tod. Magnus Wraxford kam mehrfach vorbei, ebenso John Montague, aber ich wollte keinen von beiden sehen. Ada erzählte mir, dass George an meine Mutter geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten hatte. Sophies Vermählung wurde in Form einer gedruckten Karte mitgeteilt.
    Den größten Kummer bereitete mir das Wissen, dass Edward in mir seinem Untergang begegnet war. Ada bestand darauf, dass jede, die einen Verlobten oder einen Ehemann verliert, dasselbe sagen kann. Natürlich wäre Edward nicht in Chalford geblieben, wenn er mich nicht kennengelernt hätte, aber man konnte mir das in keiner Weise vorwerfen.
    «Das ist nicht dasselbe», sagte ich eines Nachmittags. «Ich hatte ja eine böse Vorahnung – eine Vision von seinem Tod – sogar bevor ich ihn das erste Mal traf.»
    Ich erzählte ihr von der Visitation in der Annahme, dass sie verstehen würde, wie sehr ich mich schuldig gemacht hatte. Aber sie verstand es überhaupt nicht.
    «Du hast die Ähnlichkeit ja noch nicht einmal bemerkt»,sagte sie. «Das tatest du erst in der schrecklichen Auseinandersetzung mit deiner Mutter, und da warst du schockiert und verzweifelt. Natürlich ist dein Blick auf das

Weitere Kostenlose Bücher