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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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Clara zu helfen, und dann alleine zurückzufahren.
     
    Ohne Lucys Gesellschaft wäre die Einsamkeit in dieser Zurückgezogenheit unerträglich gewesen. Ich hatte gehofft, in Magnus’ Kreisen Freunde zu finden, aber unsere Entfremdung und mein Unwohlsein während der ersten Monate machten diese Hoffnung zunichte. Ich wusste nie, wohin er ging, wen er traf und was er anderen über mich erzählte, falls er über mich sprach. Zudem wusste ich nicht, ob das, was er mir mitteilte, wahr war. Und ich selbst hatte in den Monaten der Schwangerschaft viel zu viel Zeit, um über seine Absichten zu mutmaßen.Wartete er nur auf seinen Sohn – immer redete er so über das Kind   –, um mich nach dessen Geburt in ein Irrenhaus einweisen zu lassen? Das wäre ihm ein Leichtes, wo er meine Geschichte kannte. Und wenn das Kind ein Mädchen wäre, würde er mich weitere Nächte zwingen? Es gab Tage, an denen ich an meiner eigenen Wahrnehmung zweifelte – wie ein Teil von mir auch jetzt noch zweifelt: Vielleicht ließ er mich aus Feingefühl allein, und meine Angst vor ihm war vollkommen unberechtigt. Warum hatte er mich geheiratet? Er hatte mich begehrt, gewiss – aber es gab viele junge Frauen, die schöner waren als ich, vermögende Frauen aus gutem Hause, die gefügiger wären. Ich fürchtete schon damals, dass meine Gabe, wie er es nennt, ausschlaggebend war.
    Nur eine Gewissheit hatte ich: dass die Geburt meines Kindes beschleunigen würde, was immer es war, das er vorhatte. An einem eisigen Januarmorgen, als ich Clara das erste Mal in den Armen hielt, schwor ich, sie zu beschützen, selbst wenn ich dafür wieder Magnus’ Umarmungen über mich ergehen lassen müsste. Der Arzt und die Hebamme waren gegangen, ich hatte Clara das erste Mal gestillt (ich war fest entschlossen, keine Amme einzustellen, gleichgültig, wie sehr Magnus’ Bekannte das missbilligten). Ich hatte ein bisschen geschlafen und dachte, es wäre gut, Lucy zu Magnus zu schicken, ob er Clara sehen wolle. Aber offenbar hatte Magnus das Haus kurz nach dem Arzt verlassen; bis zum nächsten Morgen hörte ich nichts von ihm. Dann kam Lucy mit einer Nachricht von Bolton: «Der Herr schickt seine Glückwünsche an Mrs   Wraxford und bedauert, umgehend nach Paris reisen zu müssen.»
    Er war vierzehn Tage fort und überließ mich meinen düsteren Vorahnungen, die mir angesichts meiner Freude über Clara noch größere Angst einflößten. Das Einzige, was ich nicht erwartet hatte, war, dass sich nichts zwischen uns ändern würde. Einen Tag nach seiner Rückkehr stand er ein Weilchen neben Claras Wiege und betrachtete sie mit einem Anflug vonInteresse, eher so, wie ein Mann aus Höflichkeit geistesabwesend das Kind entfernter Verwandter anschauen mag. Er sprach von da an immer als von «deiner Tochter», und beim Frühstück fragte er nach ihr mit seiner üblichen höflichen Distanziertheit. Ein Monat verging, zwei, dann drei. Nachts, wenn ich wegen Clara erwacht war, erwartete ich, seine Schritte auf der Treppe zu hören, aber er erschien nicht. Oft bereitete ich mich innerlich darauf vor, ihn zu fragen: «Was hast du mit mir vor?», aber immer erstarb die Frage auf meinen Lippen. Die Vollkommenheit seiner Umgangsformen brachte alles zum Verstummen. Und doch war eine bevorstehende Krise so vernehmbar wie das Ticken der Uhr.
     
    ∗∗∗
     
    Clara hat sich eben im Schlaf bewegt, was meine Gedanken unterbrochen hat. Sie sieht so vollkommen friedlich aus. Das Wissen, dass ich ihretwegen tapfer sein muss, verhindert, dass die Angst mich überwältigt. Wenn das Schlimmste geschieht, wird man sagen, ich hätte sie in London zurücklassen sollen, aber das konnte ich nicht aushalten, schon gar nicht ohne Lucy. Und seit dieser letzten Visitation wage ich nicht, von ihrer Seite zu weichen. Wenn jemand – Magnus ausgenommen, denn der würde diese Seiten mit Sicherheit sofort zerreißen oder verbrennen   –, wenn jemand dieses Tagebuch je lesen sollte, wird er sich fragen, warum ich nicht mit Clara geflohen bin. Ich bin keine Gefangene – oder war es zumindest nicht, bevor ich hierherkam. Aber ich habe kein eigenes Geld, und ich habe keinen Ort, an den ich gehen könnte. Meine Mutter und Schwester sind mir so fremd geworden, dass ich noch nicht einmal ihre Adresse kenne (ich nehme an, dass Mama mit Sophie und ihrem Mann zusammenlebt). Und selbst wenn Ada und ich einander noch so nahe wären wie früher, sie und George könnten uns nicht aufnehmen: Clara und ich

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