Ruf mich bei Deinem Namen
was ich eigentlich mit meiner Zeit anfinge, warum ich immer allein sei. Das Drängen meiner Mutter, neue Freunde zu
gewinnen, wenn die alten keinen Reiz mehr für mich hätten, vor allem aber nicht ständig im Haus herumzuhängen – Bücher, Bücher, Bücher, immer nur
Bücher und Partituren. Das Flehen beider Eltern, ich solle doch mehr Tennis spielen, öfter tanzen gehen, Bekanntschaften schließen, selbst herausfinden, warum andere Menschen so
notwendig im Leben sind und keine Fremdkörper, an die man sich mit der gebotenen Vorsicht heranschleichen muss. Begeh meinetwegen Verrücktheiten, predigten sie mir, unablässig
bemüht, den mysteriösen, verräterischen Anzeichen von Herzweh auf den Grund zu gehen, das sie auf ihre täppische, bohrende, hingebungsvolle Art nur allzu gern geheilt
hätten, als sei ich ein Soldat, der sich in ihren Garten verirrt hatte und dessen Wunde unverzüglich versorgt werden musste, weil er sonst verblutet wäre. Du kannst immer mit mir
sprechen, ich war auch mal so alt wie du, pflegte mein Vater zu sagen. Glaub mir, was du fühlst und was aus deiner Sicht einmalig ist, habe auch ich durchlebt und durchlitten, und zwar mehr
als einmal – manches habe ich nie überwunden, in anderen Dingen bin ich genauso ignorant wie du heute, und doch kenne ich fast jede Biegung des Weges, jede Mautstelle, jede Kammer
des menschlichen Herzens.
Noch andere Szenen gibt es – die Stille nach Tisch, in der manche dösten, andere arbeiteten oder lasen, die ganze Welt in gedämpften Halbtönen dahindämmerte.
Himmlische Stunden, in die Stimmen der Außenwelt so sacht einsickerten, dass mir war, als schliefe ich schon. Nachmittags dann Tennis. Duschen und Cocktails. Warten aufs Abendessen. Wieder
Gäste. Abendessen. Seine zweite Fahrt zur Übersetzerin. Der gemächliche Weg in die Stadt und spätabends zurück, manchmal allein, manchmal mit Freunden.
Dann die Ausnahmen: Der stürmische Nachmittag, als wir im Wohnzimmer saßen, der Musik lauschten und dem prasselnden Hagel. Die Lichter gingen aus, die Musik erstarb, es gab nur noch
Gesichter, die einander anblickten. Eine Tante zwitscherte etwas von ihren schrecklichen Jahren in St. Louis, Missouri, das sie San Lui aussprach, Mutter duftete
nach Earl-Grey-Tee, und im Hintergrund hörte man von der Küche bis nach oben zu uns sparsames Geflüster eines Paares, das vernehmbar zischelnd miteinander stritt. Im Regen war die
hagere, in einen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt des Gärtners zu sehen, der, den Elementen trotzend, noch im Regen Unkraut zupfte, während mein Vater vom Wohnzimmerfenster aus winkend
signalisierte Geh ins Haus, Anchise, geh ins Haus.
»Der Bursche ist mir nicht geheuer«, sagte dann meine Tante.
»Dieses Ungeheuer hat ein goldenes Herz«, konterte mein Vater.
Über all diesen Stunden aber lag lastend die Angst wie ein schwerblütiges Gespenst oder ein fremder Vogel, der sich in unsere Stadt verirrt hatte und jedes lebende Wesen mit seinen
rußigen Schwingen zeichnete. Ich wusste nicht, wovor ich Angst hatte, warum ich mich ständig sorgte oder warum das, was so leicht zur Panik hätte werden können, sich zuweilen
anfühlte wie Hoffnung und unfassbare Wonne schenken konnte, eine Wonne, in der schon die Schlinge lauerte. Der Sprung, den mein Herz tat, wenn ich ihn unvermutet sah, erschreckte und erregte
mich. Ich hatte Angst, wenn er auftauchte, Angst, wenn er ausblieb, Angst, wenn er mich ansah, noch mehr Angst, wenn er es nicht tat. Diese Tortur machte mich so fertig, dass ich an brütend
heißen Nachmittagen einfach kapitulierte, auf dem Wohnzimmersofa einschlief und noch im Traum genau wusste, wer im Zimmer war, wer auf Zehenspitzen eingetreten oder hinausgegangen war, wer
dastand, wer mich ansah und wie lange, wer versuchte, die heutige Zeitung aufzuheben, ohne zu rascheln, den Versuch aufgab und den Kinospielplan aufschlug, einerlei, ob ich davon aufwachte oder
nicht.
Die Angst verging nie. Ich wachte mit ihr auf, merkte, wie sie in Freude umschlug, wenn ich ihn morgens duschen hörte und wusste, dass er mit uns frühstücken
würde – nur um zu erleben, wie sie in sich zusammensank, wenn er auf den Kaffee verzichtete, durchs Haus stürmte und sich sofort im Garten an die Arbeit setzte. Bis zum Mittag
wurde die Qual des Wartens auf ein Wort von ihm unerträglich. Mein einziger Trost in jenen Tagen waren die Stunden auf dem Sofa. Ich hasste dieses Gefühl, so glücklos, so ganz und
gar unsichtbar, so
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