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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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verschossen, so unreif zu sein. Sag etwas, berühre mich, Oliver. Schau mich lange genug an, um die Tränen zu sehen, die mir in die Augen steigen. Klopf abends an meine
Tür und schau nach, ob ich sie nicht für dich schon einen Spalt breit offen gelassen habe. Tritt ein. In meinem Bett ist immer Platz für dich.
    Am meisten fürchtete ich die Tage, an denen ich ihn länger – manchmal ganze Nachmittage und Abende – nicht zu Gesicht bekommen hatte und nicht wusste, wo er
gewesen war. Manchmal sah ich ihn über die Piazzetta gehen oder mit Leuten sprechen, die ich noch nie zuvor bemerkt hatte. Aber das zählte nicht, weil er mir auf dem kleinen Platz, der
nach Feierabend als allgemeiner Treffpunkt galt, selten einen zweiten Blick gönnte, allenfalls ein Nicken, das vielleicht weniger mir galt als meinem Vater, dessen Sohn ich zufällig
war.
    Meine Eltern, besonders mein Vater, waren rundum zufrieden mit ihm. Oliver machte sich besser als die meisten unserer Sommergäste. Er half meinem Vater beim Ordnen seiner Unterlagen,
erledigte einen großen Teil seiner Auslandskorrespondenz und machte sichtlich Fortschritte mit seinem eigenen Buch. Was er mit seinem Privatleben und in seiner Freizeit anstellte, war seine
Sache. Wenn die Jugend kantern muss, wer soll dann galoppieren? – so die ziemlich unbeholfene Formulierung meines Vaters. In unserem Hauswesen konnte
Oliver nichts falsch machen.
    Da meine Eltern nie darauf achteten, wann oder wie lange er ausblieb, hielt ich es für ungefährlicher, mir meine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Ich erwähnte seine Abwesenheit
nur dann, wenn mein Vater oder meine Mutter sich fragten, wo er wohl gesteckt hatte. Dann tat ich so erstaunt wie sie. Ja, richtig, er ist schon lange weg. Nein, keine Ahnung. Andererseits musste
ich aufpassen, kein allzu großes Erstaunen zu äußern, denn so etwas hatte leicht einen falschen Klang und konnte sie mit der Nase auf das stoßen, was mich quälte. Ein
Wunder eigentlich, dass sie noch nicht darauf gekommen waren. Du hängst dich zu schnell an die Leute – das hatten sie schon immer gesagt, und in
diesem Sommer begriff ich, was sie damit meinten. Offenbar war es nicht das erste Mal, sie hatten es bemerkt, als ich noch zu jung gewesen war, um es selbst zu erkennen. Es brachte Unruhe in ihr
Leben. Sie sorgten sich um mich – und zwar zu Recht, wie ich jetzt wusste. Ich konnte nur hoffen, dass sie nie erfahren würden, wie weit die Dinge über ihre alltägliche
Besorgnis hinausgewachsen waren. Für mich stand fest, dass sie völlig ahnungslos waren, und das verunsicherte mich, obgleich ich es nicht anders hätte haben wollen. Wenn ich so viel
von meinem Leben verbergen konnte, war ich letztlich sicher vor ihnen und vor ihm. Aber zu welchem Preis? Und: Wollte ich das überhaupt?
    Es gab niemanden, bei dem ich mich hätte aussprechen können. Wem hätte ich es sagen sollen? Mafalda? Sie würde prompt das Haus verlassen. Meiner Tante? Wahrscheinlich
hätte sie es überall herumerzählt. Marzia, Chiara, meinen Freunden? Sie würden sich sofort von mir abwenden. Meinen Vettern, wenn sie auf Besuch kamen? Ausgeschlossen. Mein
Vater hatte äußerst liberale Ansichten – aber auch auf diesem Gebiet? Was blieb mir noch? An einen meiner Lehrer zu schreiben? Zum Arzt zu gehen? Zu einem Seelendoktor? Es
Oliver zu sagen?
    Es Oliver zu sagen. Sonst gibt es niemanden, Oliver, ich fürchte also, es wird dich treffen …
    Als einmal nachmittags das Haus leer war, ging ich in sein Zimmer und an seinen Kleiderschrank. Weil das eigentlich mein Zimmer war, konnte ich so tun, als suchte ich nach
etwas, was ich in einer der unteren Schubladen vergessen hatte. Ich hatte ein bisschen in seinen Papieren stöbern wollen, aber als ich die Schranktür aufmachte, sah ich sie –
die für heute fällige rote Badehose, in der er aber nicht geschwommen war und die deshalb nicht zum Trocknen auf dem Balkon hing. Ich, der ich noch nie in fremder Leute Sachen
herumgeschnüffelt hatte, griff mir die Badehose, legte sie mir ans Gesicht und rieb es an ihrer Innenseite, als wollte ich mich ganz hineinschmiegen, mich in ihren Falten verkriechen. So also
riecht er, wenn sein Körper nicht voller Sonnenmilch ist, so riecht er, wiederholte ich immer wieder, sah in die Badehose hinein auf der Suche nach etwas noch Persönlicherem als seinem
Geruch und küsste jede Falte, suchte nach Haaren, nach irgend etwas zum Belecken, hätte am liebsten die ganze

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