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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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aufgestiegen war?
    Ich hätte so gern Schultern wie er gehabt. Aber vielleicht hätten mir dann seine gar nicht gefallen.
    Muvi star.
    Wollte ich sein wie er? Wollte ich er sein? Oder wollte ich ihn nur haben? Oder sind »sein« und »haben« völlig unzureichende Vokabeln in dem verschlungenen Strang
des Begehrens, wo es auf das Gleiche herauskommt, ob man eines Menschen Körper zum Berühren hat oder der Jemand ist, den wir so gern berühren möchten –
gegenüberliegende Ufer eines Flusses, der von uns zu ihnen geht, zurück zu uns und wieder hin zu ihnen in ewigem Kreislauf, wo den Kammern des Herzens – wie den Falltüren
des Begehrens und den Wurmlöchern der Zeit und den Schubfächern mit dem falschen Boden, die wir Identität nennen – eine verführerische Logik eignet, nach der die
kürzeste Entfernung zwischen dem wirklichen und dem ungelebten Leben, zwischen dem, was wir sind und was wir wollen, eine mit der koboldbösen Grausamkeit eines M.C. Escher konstruierte
Wendeltreppe ist. Wann haben sie uns getrennt, dich und mich, Oliver? Und warum wusste ich es, und du wusstest es nicht? Ist es dein Körper, den ich will, wenn ich mir vorstelle, Nacht
für Nacht neben dir zu liegen, oder möchte ich in ihn hineinschlüpfen und ihn besitzen, als wäre es mein eigener, so wie in dem Moment, als ich deine Badehose anzog und wieder
auszog und mich leidenschaftlich danach sehnte, zu spüren, wie du in mich hineingleitest, als sei mein Körper deine Badehose, dein Heim? Du in mir, ich in dir …
    Dann kam der Tag. Wir waren im Garten, ich sprach von der Novelle, die ich gerade gelesen hatte.
    »Von dem Ritter, der nicht weiß, ob er sprechen oder sterben soll? Hast du mir schon mal erzählt.«
    Offenbar hatte ich es tatsächlich erwähnt, aber wieder vergessen.
    »Ja.«
    »Spricht er nun, oder spricht er nicht?«
    »Zu sprechen ist besser, sagt sie. Aber sie ist auf der Hut. Sie wittert eine Falle.«
    »Und spricht er?«
    »Nein, er drückt sich herum.«
    »Typisch!«
    Wir waren gerade mit dem Frühstück fertig geworden und hatten beide keine Lust zum Arbeiten.
    »Ich muss Sachen in der Stadt abholen.«
    Sachen waren immer die neuesten Seiten von der Übersetzerin.
    »Ich fahre hin, wenn du willst.«
    Er schwieg einen Augenblick. Dann:
    »Nein. Fahren wir zusammen.«
    »Jetzt gleich?« Aber eigentlich meinte ich: Im Ernst?
    »Warum – hast du was Besseres vor?«
    »Nein.«
    »Also dann los.« Er legte ein paar Seiten in seinen verschlissenen grünen Rucksack und warf ihn sich über die Schulter.
    Seit unserer letzten Fahrradtour nach B. hatte er mich nie mehr aufgefordert, ihn irgendwohin zu begleiten.
    Ich legte meinen Füller aus der Hand, klappte meine Partitur zu und stellte ein halb volles Glas Limonade auf meine Notizen. Dann konnte es losgehen.
    Auf dem Weg zum Fahrradschuppen kamen wir an der Garage vorbei.
    Wie üblich stritt Manfredi, Mafaldas Mann, mit Anchise. Diesmal warf er ihm vor, die Tomaten zu reichlich zu gießen, das sei völlig falsch, davon würden sie zu schnell
wachsen. »Mehlig werden sie«, zeterte er.
    »Ich sag dir was: Ich kümmere mich um meine Tomaten und du kümmerst dich um deine Autos, dann sind alle zufrieden.«
    »Das verstehst du nicht. Zu meiner Zeit versetzte man die Tomaten zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer Stelle an die andere, von einer an die andere«, wiederholte er mit
Nachdruck, »und pflanzte Basilikum daneben. Aber Typen wie du, die in der Armee waren, wissen natürlich alles besser.«
    »Ganz recht.« Anchise ignorierte ihn einfach.
    »Eben. Kein Wunder, dass sie dich in der Armee nicht behalten haben.«
    »Ganz recht. Sie haben mich in der Armee nicht behalten.«
    Beide grüßten uns. Der Gärtner gab Oliver sein Fahrrad zurück. »Ich hab gestern Abend das eine Rad gerichtet, war gar nicht so einfach. Ich hab auch die Reifen etwas
aufgepumpt.«
    Manfredi war tief gekränkt.
    »Von jetzt an repariere ich die Räder, und du bleibst bei deinen Tomaten«, sagte er verkniffen.
    Anchise lächelte säuerlich, Oliver lächelte zurück.
    In der Allee, die auf die Straße zur Stadt führte, fragte ich Oliver: »Findest du nicht auch, dass der Mann nicht ganz geheuer ist?«
    »Wer?«
    »Anchise.«
    »Nein, warum? Ich bin neulich auf dem Heimweg gestürzt und habe mir ein paar hässliche Schrammen geholt. Anchise hat es sich nicht nehmen lassen, irgendeine Hexensalbe
draufzustreichen. Und das Rad hat er auch repariert.«
    Mit einer Hand auf dem Lenker

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