Ruf mich bei Deinem Namen
hob er sein Hemd hoch, unter dem eine große Schramme und ein Bluterguss an der linken Hüfte zum Vorschein kamen.
»Geheuer ist mir der Kerl trotzdem nicht«, wiederholte ich das Urteil meiner Tante.
»Im Grunde ist er nur eine verlorene Seele.«
Ich hätte die Schramme am liebsten angefasst und gestreichelt.
Unterwegs fiel mir auf, dass Oliver sich Zeit ließ. Er hetzte nicht wie sonst, raste nicht mit dem gewohnten sportlichen Ehrgeiz bergab. Er schien es auch nicht eilig zu haben, wieder an
seine Arbeit zu gehen, sich zu seinen Freunden am Strand zu gesellen oder mich wie üblich loszuwerden. Vielleicht hatte er nichts Besseres zu tun. Das war mein Augenblick im Himmel , und ich wusste, dass es keinen Bestand haben würde und ich mich zumindest daran freuen sollte, statt mir mit meinen immer wieder neu angekurbelten Vorsätzen,
unsere Freundschaft zu festigen oder auf eine andere Ebene zu heben, alles zu verderben. Mit der Freundschaft wird es nie was, dachte ich, das hier hat nichts zu bedeuten, ist nur so was wie eine
Gnadenfrist. Zwischen Immer und Nie. Zwischen Immer und Nie. Celan.
Auf der Piazzetta mit Blick aufs Meer hielt Oliver an, um Zigaretten zu kaufen. Er rauchte neuerdings Gauloises, die ich noch nie probiert hatte. Ich bat ihn um eine. Er nahm ein Streichholz aus
der Packung, legte ganz nah an meinem Gesicht die hohlen Hände aneinander und zündete meine Zigarette an. »Nicht übel, was?« »Gar nicht übel.« Sie werden
mich an ihn erinnern, an diesen Tag, dachte ich und begriff, dass er in knapp einem Monat verschwinden würde. Spurlos.
Das war das erste Mal, dass ich mir gestattete, seine verbleibenden Tage in B. zu zählen.
»Jetzt schau dir das an«, sagte er, als wir mit unseren Rädern in der Vormittagssonne zum Rand der Piazzetta schlenderten, von dem der Blick ins Hügelland ging.
Weiter draußen lag, herrlich anzusehen, das Meer, nur ein paar Schaumstreifen durchzogen die Bucht wie aus der Brandung hochtauchende Riesendelphine. Ein winziger Bus quälte sich
bergauf, dahinter strampelten drei Radfahrer in Uniform, die sich offenbar über die Auspuffgase beschwerten. »Weißt du, wer angeblich hier in der Nähe ertrunken ist?«,
sagte er.
»Shelley.«
»Und weißt du, was seine Frau Mary und seine Freunde taten, nachdem sie seine Leiche gefunden hatten?«
» Cor cordium , Herz der Herzen …« Ich dachte an den Moment, in dem ein Freund sich Shelleys Herz gegriffen hatte, ehe die Flammen seinen
aufgedunsenen Leib, der gerade am Strand verbrannt wurde, ganz verschlingen konnten. Warum examinierte er mich?
»Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht weißt?«
Ich sah ihn an. Das war mein Stichwort. Ich konnte diesen Augenblick festhalten oder verlieren, aber so oder so war er etwas, worüber ich nie hinwegkommen würde. Oder ich konnte mich
über Olivers Kompliment freuen und allem anderen mein Leben lang nachtrauern. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt sprach ich mit einem Erwachsenen, ohne mir meine Worte zurechtzulegen,
ich war viel zu aufgeregt dazu.
»Ich weiß nichts. Oliver. Nichts, einfach nichts.«
»Du weißt mehr als jeder andere hier.«
Warum antwortete er auf meine fast tragische Feststellung mit banalen Schmeicheleien?
»Du hast ja keine Ahnung, wie wenig ich von dem weiß, worauf es wirklich ankommt.«
Ich trat verzweifelt Wasser, weil ich weder ertrinken noch mich an Land in Sicherheit bringen, sondern an Ort und Stelle bleiben wollte, denn dies war nun die Wahrheit. Auch wenn ich sie nicht
aussprechen, ja nicht einmal andeuten konnte, hätte ich schwören können, dass sie zum Greifen nah war wie eine Halskette, die du gerade beim Schwimmen verloren hast. Irgendwo da
unten liegt sie. Wenn er nur ahnte, dass ich ihm die Chance gab, zwei und zwei zusammenzuzählen, um auf eine Summe zu kommen, die größer war als die Unendlichkeit …
Doch um das zu begreifen, hätte er einen Verdacht haben müssen, und hätte er einen Verdacht gehabt, hätte er mich schon längst mit seinem feindseligen, glasigen,
durchdringenden, allwissenden Blick fixiert.
Er musste auf etwas gestoßen sein, aber auf was? Vielleicht versuchte er nur, sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen.
»Nämlich?«
War er wirklich so naiv?
»Das weißt du doch. Gerade du müsstest es wissen.«
Schweigen.
»Warum sagst du mir das alles?«
»Weil ich finde, dass du es wissen solltest.«
»Weil ich finde, dass du es wissen solltest«, wiederholte er langsam,
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