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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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dass er heute anderswo aß, er sollte bei uns essen.
    »Noi ci mettiamo a tavola«, wir gehen jetzt zu Tisch, sagte meine Mutter und bat mich an ihre Seite.
    Olivers Stuhl war leer. Er hätte uns zumindest sagen können, dass er nicht zum Abendessen kommt, beschwerte sich meine Mutter.
    Vielleicht ist wieder was mit dem Boot, meinte mein Vater. Der Kahn gehört abgewrackt.
    Aber das Boot liegt unten, sagte ich.
    »Dann muss es die Übersetzerin sein. Mir ist, als hätte mir jemand erzählt, dass er heute Abend noch mal zu seiner Übersetzerin wollte«, sagte meine Mutter.
    Ich darf nicht zeigen, dass ich nervös bin. Oder dass mich die Sache berührt. Bleib ruhig. Damit du nicht wieder Nasenbluten kriegst. Aber jene Augenblicke, die mir jetzt so
beglückend erschienen, als wir vor und nach unserem Gespräch unsere Räder über die Piazzetta geschoben hatten, gehörten in ein anderes Zeitsegment, es war, als hätte
sie ein anderes Ich erlebt in einem anderen Leben, das sich von dem meinen nicht allzu sehr unterschied, aber fern genug war, um aus den wenigen Sekunden, die uns trennten, Lichtjahre zu machen.
Wenn ich meinen Fuß auf den Boden stelle und so tue, als sei seiner hinter dem Tischbein – wird dann jener Fuß wie ein Raumschiff, das seine Tarnvorrichtung aktiviert hat,
wie ein von den Lebenden aus dem Jenseits herbeigerufener Geist plötzlich aus der Versenkung auftauchen und sagen Ich weiß, dass du gewinkt hast. Streck
dich – hier bin ich!
    Kurz danach wurde der Freundin meiner Mutter, die sich in letzter Minute entschieden hatte, zum Essen zu bleiben, der Platz zugewiesen, an dem ich mittags gesessen hatte. Olivers Gedeck wurde
sogleich abgeräumt – kurzerhand, ohne jedes Anzeichen von Bedauern oder Bedenken, so wie man eine Blumenzwiebel entsorgen würde, die nicht mehr blühen will, oder die
Eingeweide eines geschlachteten Schafs, das einst ein Haustier war, oder die Bettwäsche eines Menschen, der gerade gestorben ist. Hier, nimm das und schaff es uns aus den Augen. Ich sah sein
Besteck, sein Platzset, seine Serviette, alles, was ihn ausmachte, verschwinden. Es war ein Vorgriff auf das, was in weniger als einem Monat geschehen würde. Mafalda war solch kurzfristiges
Umdisponieren bei Tisch verhasst. Sie schüttelte den Kopf über Oliver, über meine Mutter, über unsere Welt. Und wohl auch über mich. Ohne sie anzusehen, wusste ich, dass
sie mich aufmerksam musterte, um bei der ersten Gelegenheit Augenkontakt herzustellen, und deshalb hütete ich mich, von meinem semifreddo aufzublicken, das ich
so gern aß und das sie mir hingestellt hatte, weil sie ungeachtet ihrer vorwurfsvollen Miene ganz genau wusste, dass ich wusste, wie leid ich ihr tat.
    Später, als ich am Klavier saß, zuckte ich zusammen, als ich meinte, vor unserem Tor einen Roller halten zu hören. Jemand hat ihn mitgenommen. Oder doch nicht? Ich horchte auf
Schritte im Kies, auf das gedämpfte Schlappen der Espadrilles, wenn er die Treppe zum Balkon hochging. Aber niemand betrat das Haus.
    Viel, viel später, als ich schon im Bett lag, hörte ich Musik aus einem Wagen, der auf der Hauptstraße, jenseits der Pinienallee, gehalten hatte. Tür auf. Tür zu.
Leiser werdendes Wagengeräusch, verhallende Musik. Jetzt nur noch die Brandung und die schleifenden Schritte eines nächtlichen Heimkehrers im Kies, der tief in Gedanken oder leicht
angetrunken ist.
    Wenn er nun auf dem Weg in sein Zimmer bei mir vorbeikommt? Wollte mal eben vorbeischauen, ehe ich mich hinlege, und fragen, wie’s dir geht. Alles okay?
    Keine Antwort.
    Sauer?
    Keine Antwort.
    Bist du sauer?
    Überhaupt nicht. Es ist nur, weil du gesagt hast, du bleibst in der Nähe.
    Du bist also sauer?
    Warum bist du nicht geblieben?
    Er sieht mich an, dann – wie von einem Erwachsenen zum anderen: Das weißt du doch .
    Weil du mich nicht leiden kannst.
    Nein .
    Weil du mich noch nie hast leiden können.
    Nein. Weil ich nicht gut für dich bin .
    Schweigen.
    Glaub es mir. Bitte .
    Ich hebe einen Zipfel meiner Bettdecke.
    Er schüttelt den Kopf.
    Nur eine Sekunde?
    Wieder ein Kopfschütteln. Ich kenne mich, sagt er.
    Das habe ich schon einmal von ihm gehört. Im Klartext: Ich würde wahnsinnig gern, aber wenn ich einmal angefangen habe, kann ich mich vielleicht nicht mehr
bremsen, also fange ich gar nicht erst an . Schöne Chuzpe das – zu sagen, man könne jemanden nicht anfassen, weil man sich kennt!
    Wenn du schon nichts mit mir anfangen willst – kannst du

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