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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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Senf zu jeder Szene gaben, das Ende voraussagten,
abwechselnd entrüstet und voller Hohn die dämliche Story, die Schauspieler, die Figuren kommentierten. Was hättest du denn an ihrer Stelle getan? Ich hätte ihn verlassen, ganz
einfach. Und du, Mafalda? Also ich finde, sie hätte seinen ersten Antrag annehmen sollen, statt so lange herumzuzicken. Ganz meine Meinung. Das hat sie sich selber eingebrockt. Eben!
    Wir wurden nur einmal unterbrochen, durch einen Anruf für Oliver aus den Staaten. Er hielt seine Gespräche immer erstaunlich, ja geradezu unhöflich kurz. Wir hörten sein
unvermeidliches »Später«, hörten ihn auflegen, und im Nu war er wieder da und fragte, was er versäumt hatte. Zu dem Inhalt der Anrufe äußerte er sich nie, und
wir fragten nicht. Alle erboten sich gleichzeitig, ihn über den Fortgang der Handlung aufzuklären, auch mein Vater, dessen Version aber lange nicht so erhellend war wie die von Mafalda.
Es wurde sehr laut, so dass wir alle miteinander mehr von dem Film versäumten als Oliver während seines kurzen Telefongesprächs. Das gab großes Gelächter. Während wir
noch ganz von dem dramatischen Geschehen am Bildschirm gefangen waren, kam Anchise ins Wohnzimmer, schlug ein triefendes altes T-Shirt auseinander und präsentierte den Fang des Abends, einen
gigantischen Zackenbarsch, der prompt zum Mittag- und Abendessen für den nächsten Tag bestimmt wurde und alle reichlich satt machen würde. Vater spendierte Grappa für die ganze
Gesellschaft, auch ein paar Tropfen für Vimini.
    An jenem Abend gingen wir alle früh zu Bett. Die Erschöpfung war allgemein. Ich muss sehr lange geschlafen haben, denn als ich aufwachte, wurde schon das Frühstück
abgeräumt.
    Oliver lag auf dem Rasen, ein Lexikon zu seiner Linken, einen gelben Schreibblock unter der Brust. Er sah nicht elend aus und war auch nicht in der Stimmung von gestern, wie ich gehofft hatte,
sondern schon ganz in die Arbeit vertieft. Es war mir peinlich, das Schweigen zu brechen und ich war versucht, aus alter Gewohnheit so zu tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt, aber das fiel
mir jetzt schwer, zumal er mir ja vor zwei Tagen gesagt hatte, dass er meine kleine Komödie durchschaute.
    Würde die Erkenntnis, dass wir schauspielerten, in einer neuerlichen Schweigephase an unserem Verhältnis etwas ändern?
    Wahrscheinlich nicht. Sie konnte den Graben eher noch vertiefen, weil wir wohl beide nicht im Ernst glaubten, wir wären dumm genug, etwas vorzutäuschen, was schon als Theater entlarvt
war.
    »Ich habe gestern auf dich gewartet.« Ich redete wie meine Mutter, wenn sie meinem Vater Vorwürfe machte, weil er ungewöhnlich spät nach Hause gekommen war. Dass ich
so kleinlich sein konnte, hatte ich nicht gewusst.
    »Warum warst du nicht in der Stadt?«, fragte er.
    »Weiß nicht.«
    »Es war sehr nett, hätte dir auch gefallen. Bist du jetzt wenigstens ausgeruht?«
    »Mehr oder weniger. Hibbelig. Aber okay.«
    Er sah wieder auf die Seite, die er gerade gelesen hatte, und sprach die Silben lautlos vor sich hin, vielleicht um mir zu zeigen, dass er restlos auf seine Arbeit konzentriert war.
    »Willst du heute Vormittag in die Stadt?«
    Ich wusste, dass ich störte und hasste mich dafür.
    »Später vielleicht.«
    Das war deutlich, aber etwas in mir weigerte sich zu glauben, dass sich die Dinge so schnell ändern konnten.
    »Ich wollte auch in die Stadt.«
    »Hm.«
    »Ein Buch, das ich bestellt hatte, ist endlich gekommen, ich soll es heute Vormittag in der Buchhandlung abholen.«
    »Welches?«
    »Armance.«
    »Ich bring’s dir gern mit.«
    Ich sah ihn an und kam mir vor wie ein Kind, dem es trotz aller indirekten Bitten und Winke nicht gelingt, den Eltern klarzumachen, dass sie versprochen hatten, mit ihm ins
Spielzeuggeschäft zu gehen. Sinnlos, weiter um den heißen Brei herumzureden.
    »Es ist nur … ich hatte gedacht, wir könnten vielleicht zusammen hinfahren.«
    »Wie neulich, meinst du?«, ergänzte er, als wollte er mir helfen, das zu sagen, was ich selbst nicht herausbrachte. Dass er so tat, als habe er den genauen Tag vergessen, machte
mir die Sache nicht leichter.
    »Wohl nicht ganz so wie neulich.« Ich bemühte mich, edlen Verzicht in meiner Stimme anklingen zu lassen. »Aber ja – so hatte ich es gemeint.« Auch ich
verstand mich auf nebulöse Formulierungen.
    Dafür, dass ich, ein extrem schüchterner Junge, den Mut fand, so etwas zu sagen, gab es nur eine Erklärung – einen Traum, den ich

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