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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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mir wenigstens eine Geschichte vorlesen?
    Damit würde ich mich zufriedengeben. Mit einer Geschichte. Von Tschechow oder Gogol oder Katherine Mansfield. Zieh dich aus, Oliver und komm in mein Bett, lass mich dich spüren, dein
Haar an meiner Haut, deinen Fuß auf meinem, wenn die Nacht am Himmel steht, und Geschichten von rastlosen Menschen lesen, die zum Schluss immer einsam und unglücklich sind, weil sie es
nicht ertragen können, mit sich selbst allein zu sein …
    Verräter, dachte ich, während ich darauf wartete, dass seine Zimmertür mit leisem Quietschen auf und wieder zuging. Verräter. Wie schnell wir vergessen. Ich bleib in der Nähe . Von wegen! Lügner.
    Es kam mir nicht in den Sinn, dass auch ich ein Verräter war, dass am Strand in der Nähe ihres Hauses ein Mädchen in dieser Nacht wie in allen Nächten davor auf mich wartete,
dass ich wie Oliver keinen Gedanken mehr an sie verschwendet hatte.
    Jetzt war er auf dem oberen Flur. Ich hatte meine Tür einen Spalt breit offen gelassen, weil ich hoffte, von draußen würde so viel Licht hereinkommen, dass man meinen Körper
sehen konnte. Ich hatte mich mit dem Gesicht zur Wand gedreht. Es war seine Entscheidung. Er ging schnurstracks an meinem Zimmer vorbei.
    Seine Tür klappte zu.
    Und ging wenige Minuten danach wieder auf. Mein Herz tat einen Sprung. Ich schwitzte jetzt und spürte die Feuchtigkeit auf meinem Kopfkissen. Noch ein paar Schritte. Dann klickte die
Badezimmertür. Wenn er duschte, hatte er Sex gehabt. Ich hörte es in der Badewanne rauschen, hörte die Dusche prasseln. Verräter. Verräter.
    Jetzt muss er gleich aus der Dusche kommen. Aber er brauchte eine Ewigkeit.
    Als ich mich schließlich umdrehte, war es stockfinster. Die Tür war zu – war jemand bei mir im Zimmer? Ich roch sein Roger-&-Gallet-Shampoo so nah, dass mein Arm sein
Gesicht streifen musste, wenn ich ihn hob. Er stand im Dunkeln in meinem Zimmer, als überlegte er, ob er mich wecken oder in der Dunkelheit nach meinem Bett suchen sollte. Gesegnet sei diese
Nacht, dachte ich, gesegnet sei diese Nacht. Ich sagte kein Wort, versuchte den Umriss des Bademantels zu erkennen, den ich so oft getragen hatte, nachdem er ihn benutzt hatte. Der lange
Frotteegürtel war mir so nah, dass er leicht meine Wange streifte. Jetzt wird er gleich den Bademantel fallen lassen. Ist er barfuss? Und hat er meine Tür abgeschlossen? Ist er so steif
wie ich, drängt sein Schwanz schon aus dem Bademantel, und kitzelt deshalb der Gürtel mein Gesicht, macht er das absichtlich, dass er mein Gesicht kitzelt, hör nicht auf, hör
nicht auf, hör nie mehr auf. Unvermittelt öffnete sich die Tür. Warum machst du das?
    Es war nur der Zugwind. Ein Windstoß hatte die Tür zugeschlagen, ein Windstoß machte sie wieder auf. Der Gürtel, der so neckisch mein Gesicht gekitzelt hatte, war nur das
Moskitonetz, das bei jedem Atemzug mein Gesicht streifte. Im Badezimmer hörte ich Wasser laufen, Stunden schienen vergangen zu sein, seit er sich unter die Dusche gestellt hatte. Nein, es war
nicht die Dusche, die ich hörte, es war die Wasserspülung der Toilette, die nicht richtig funktionierte, sich in bestimmten Abständen leerte, wenn sie kurz vor dem Überlaufen
war, nur um sich wieder zu füllen und zu leeren, immer wieder, die ganze Nacht hindurch. Als ich auf den Balkon trat und das Meer in zartem Hellblau daliegen sah, wusste ich, dass der Morgen
gekommen war.
    Eine Stunde später wachte ich wieder auf.
    Beim Frühstück tat ich wie üblich, als sei er Luft für mich. Es war meine Mutter, die nach einem Blick auf ihn hervorstieß Ma guardi un po’
quant’è pallido, nein, also wirklich, wie elend Sie aussehen! Trotz ihrer recht unverblümten Bemerkungen wahrte sie Oliver gegenüber immer die Form. Mein Vater sah
kurz auf und vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. »Na, hoffentlich hast du gestern Abend wenigstens einen großen Reibach gemacht, sonst muss ich es bei deinem Vater
ausbaden.« Oliver machte sein weich gekochtes Ei auf, indem er mit der flachen Seite seines Teelöffels darauf herumklopfte. Er hatte es immer noch nicht gelernt. »Ich verliere nie,
Prof«, sagte er zu dem Ei, so wie mein Vater zu der Zeitung gesprochen hatte. »Ist dein Vater damit einverstanden?« »Ich finanziere mich selbst. Schon seit der Oberschule.
Dagegen kann mein Vater eigentlich nichts haben.« Ich beneidete ihn. »Hast du gestern Abend viel getrunken?«
    »Das … und anderes.« Er strich

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