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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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sich Butter aufs Brot.
    »Ich will’s gar nicht wissen.«
    »Genau wie mein Vater. Und um ehrlich zu sein, mag ich mich auch gar nicht daran erinnern.«
    War das an meine Adresse gerichtet? Aus uns beiden wird nie was, und je schneller du das kapierst, desto besser für uns alle .
    Oder war das alles nur eine teuflische Pose?
    Wie ich Menschen bewunderte, die über ihre Laster sprachen wie über entfernte Verwandte, die man ertragen muss, weil man sie nicht ganz verleugnen kann! Das und
anderes. Ich mag mich gar nicht daran erinnern  – wie das Ich kenne mich  – spielte auf einen Bereich menschlicher Erfahrung an, der
vielleicht anderen, aber nicht mir offen stand. Wie sehr ich mir wünschte, irgendwann auch so etwas sagen zu können – dass ich mich an einem wunderschönen Sommermorgen
nicht an das erinnerte, was ich nachts getrieben hatte. Was war wohl dieses andere , wonach er hatte duschen müssen? Hast du geduscht, um wieder munter zu
werden, weil dein Körper sonst schlapp gemacht hätte? Oder um zu vergessen, um alle Spuren von nächtlicher Verderbnis und Entwürdigung zu tilgen? Ja, wenn man das könnte
wie du – sich offen zu seinen Lastern bekennen, indem man den Kopf über sie schüttelt, das Ganze mit frisch von Mafaldas arthritischen Fingern bereitetem Aprikosensaft
herunterspült und hinterher genüsslich schmatzt …
    »Legst du deine Gewinne auf die hohe Kante?«
    »Ja, und ich investiere auch, Prof.«
    »Schade, dass ich in deinem Alter nicht so vernünftig war du, ich hätte mir viele Irrwege erspart«, sagte mein Vater.
    »Sie und Irrwege, Prof? Die kann ich mir ehrlich gesagt bei Ihnen nicht vorstellen.«
    »Weil du mich als Figur siehst und nicht als lebendigen Menschen. Schlimmer noch – als die Figur eines alten Mannes. Doch, diese Irrwege hat es gegeben. Jeder von uns erlebt
eine Phase des traviamento  – etwa, wenn wir im Leben eine andere Richtung, eine andere via einschlagen. Auch Dante hat das
getan. Manche Menschen fangen sich wieder, andere geben vor, sie hätten sich gefangen, manche kommen nie mehr zurück, manche ziehen den Schwanz ein, noch ehe sie angefangen haben, und
manche führen aus Angst, vom Weg abzukommen, jahraus, jahrein das falsche Leben.«
    Meine Mutter stieß einen wohlklingenden Seufzer aus – ihre Art, die Anwesenden vorsichtig darauf hinzuweisen, dass sich diese Darlegungen leicht zu einer improvisierten
Vorlesung des großen Mannes auswachsen konnten.
    Oliver klopfte das nächste Ei auf.
    Er hatte schwere Tränensäcke unter den Augen. Und sah tatsächlich elend aus.
    »Manchmal stellt sich heraus, dass il traviamento der richtige Weg ist, Prof. Oder einer, der zumindest so gut ist wie jeder andere.«
    Mein Vater, der sich schon seine Zigarette angezündet hatte, signalisierte mit tiefsinnigem Nicken, dass er kein Fachmann auf diesem Gebiet und gern bereit war, hier Kundigeren das Feld zu
überlassen. »In deinem Alter hatte ich keine Ahnung. Aber heute weiß jeder alles, und alle reden, reden, reden.«
    »Vielleicht ist das, was Oliver jetzt braucht, Schlaf, Schlaf, Schlaf.«
    »Heute Abend, Signora P., verzichte ich auf Poker und Alkohol! Ziehe saubere Sachen an und setze mich an mein Manuskript, und nach dem Essen gucken wir alle fern und spielen Canasta, wie
die alten Männer in Little Italy.« Er brachte ein etwas schiefes Lächeln zustande. »Zuerst muss ich noch kurz zur Milani. Heute Abend aber bin ich der bravste Junge an der
ganzen Riviera – versprochen!«
    Und so geschah es. Nach einem kurzen Abstecher in die Stadt war er den ganzen Tag der »grüne Oliver«, nicht älter als Vimini – mit all ihrem Freimut und ohne
ihre Stacheln. Aus dem Geschäft in B. ließ er eine Riesenladung Blumen kommen. »Hast du den Verstand verloren?«, sagte meine Mutter. Nach dem Lunch verkündete er, dass
er einen Mittagsschlaf machen würde – den ersten und letzten, solange er bei uns war. Und er hatte wohl tatsächlich geschlafen, denn als er gegen fünf wieder auftauchte,
wirkte er ausgeruht und um zehn Jahre jünger – rosige Wangen, blanke Augen, das Elendsgesicht verschwunden. Man hätte denken können, er sei nicht älter als ich. Wie
versprochen setzte er sich abends mit uns – Gäste waren nicht da – vor den Fernseher, und wir guckten Seifenopern. Das Schönste daran war, wie alle,
einschließlich Vimini, die unvermutet hereingeschneit kam, und Mafalda, die ihren Stammplatz an der Tür zum Wohnzimmer hatte, ihren

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