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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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Wasser hinein. Ich war nicht unglücklich. Ich hätte gern jemanden zur Gesellschaft gehabt. Aber das Alleinsein bedrückte mich nicht.
    Vimini, die wohl einer aus unserer Clique mitgebracht hatte, sagte, sie hätte gehört, dass es mir nicht gut gegangen sei. »Wir Kranken …«, setzte sie an.
    »Weißt du, wo Oliver ist?«, fragte ich.
    »Nein. Ich hab gedacht, er ist mit Anchise beim Fischen.«
    »Mit Anchise? Ist er übergeschnappt? Beim letzten Mal ist er dabei fast draufgegangen.«
    Keine Reaktion. Sie hatte den Blick von der sinkenden Sonne abgewandt.
    »Du magst ihn, nicht?«
    »Ja.«
    »Er mag dich auch – mehr als du ihn magst, glaube ich.«
    War das ihr Eindruck?
    Nein, der von Oliver.
    Wann hatte er ihr das gesagt?
    Vor einer Weile.
    Das musste in der Zeit gewesen sein, als wir kaum mehr miteinander gesprochen hatten. Selbst meine Mutter hatte mich beiseitegenommen und gesagt, ich solle doch höflicher zu unserem cauboi sein. Ohne auch nur ein beiläufiges Hallo an ihm vorbeizugehen, sei nun wirklich nicht nett.
    »Ich glaube, er hat recht«, sagte Vimini.
    Ich zuckte die Schultern. Noch nie aber hatte ich mich mit so heftigen Widersprüchen herumgeschlagen. Es war eine Qual, etwas wie Wut schäumte in mir hoch. Ich versuchte, zur Ruhe zu
kommen und an den Sonnenuntergang zu denken, so wie sich jemand, der am Lügendetektor hängt, gern heitere und friedliche Szenen vor Augen führt, um seine Nervosität zu
verbergen. Aber ich zwang mich auch deshalb, an anderes zu denken, weil ich mich scheute, Gedanken an die kommenden Nacht zu berühren oder vorzeitig aufzubrauchen. Womöglich sagte er
nein, womöglich entschloss er sich sogar, unser Haus zu verlassen und auf entsprechenden Druck den Grund dafür zu verraten. Weiter wagte ich nicht zu denken.
    Dann kam mir eine erschreckende Idee. Was war, wenn er gerade jetzt unter den Leuten, mit denen er sich angefreundet hatte oder all denen, die sich darum rissen, ihn zum Essen einzuladen,
ausplauderte oder auch nur andeutete, was bei unserer Fahrt in die Stadt geschehen war? Hätte ich an seiner Stelle so ein Geheimnis bewahren können? Nein.
    Und dennoch: Er hatte mir bewiesen, wie selbstverständlich man das, was ich mir wünschte, geben und entgegennehmen konnte, so dass man sich fragte, warum es mit so grauenvoller
Quälerei und Scham verbunden sein musste, obwohl es doch nicht komplizierter war, als etwa eine Schachtel Zigaretten zu kaufen oder einen Joint weiterzugeben oder nachts bei einem der Frauen
hinter der Piazzetta stehenzubleiben, einen Preis auszuhandeln und kurz mit ihr nach oben zu gehen.
    Als ich nach dem Schwimmen wieder ins Haus kam, war er immer noch nicht zu sehen. Nein, er sei noch nicht zurück, erfuhr ich auf meine Frage. Sein Rad stand noch da, wo wir es vor dem Lunch
abgestellt hatten. Und Anchise war schon seit Stunden wieder zurück. Ich ging nach oben und versuchte, von unserem Balkon aus in sein Zimmer zu kommen, aber die Tür war geschlossen. Durch
die Scheibe sah ich nur die Shorts, in denen er zum Lunch erschienen war.
    Ich überlegte. Heute Nachmittag, als er versprochen hatte, in der Nähe zu bleiben, hatte er eine Badehose angehabt. Ich sah vom Balkon aus aufs Meer. War er noch einmal mit dem Boot
hinausgefahren? Nein, es war an unserem Steg vertäut.
    Unten saß mein Vater mit einem Reporter aus Frankreich beim Aperitif. Spiel doch was, sagte er. » Non mi va «, sagte ich. »Keine
Lust.« » E perché non ti va? « Mein Ton schmeckte ihm offenbar nicht. » Perché non mi va «,
schoss ich zurück.
    Mir schien, als hätte ich an diesem Vormittag endgültig eine Hemmschwelle überwunden. Jetzt ließ ich meiner schlechten Laune freien Lauf.
    Ich solle vielleicht auch einen Schluck Wein trinken, meinte mein Vater.
    Es ist angerichtet, meldete Mafalda.
    »So früh?«, fragte ich.
    »Es ist nach acht.«
    Meine Mutter begleitete eine ihrer Freundinnen zum Wagen.
    Ich war sehr froh, dass der Franzose, der sich schon auf die Sesselkante vorgeschoben hatte in der Erwartung, ins Esszimmer geführt zu werden, im Augenblick noch saß, beide Hände
um sein leeres Glas gelegt, und dadurch auch meinen Vater, der ihn nach seiner Meinung über die kommende Opernsaison gefragt hatte, zum Sitzenbleiben zwang.
    Das Abendessen wurde fünf bis zehn Minuten nach hinten verlegt. Wenn er zu spät zum Essen kam, würde er sich nicht mit uns zu Tisch setzen. Aber wenn er nicht kam, bedeutete das,
dass er anderswo aß. Ich wollte nicht,

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