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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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dass ich mir vorgenommen hatte, nie auf seine Seite des Balkons zu gehen, weil
ich ihm auf keinen Fall zu nahe treten, aber auch, weil ich den unsichtbaren Stolperdraht zwischen uns nicht auf die Probe stellen wollte – Stolperdraht? Was meinst
du damit?  – den Stolperdraht, den ich eines Nachts, wenn mein Traum zu machtvoll geworden ist oder ich mehr Wein als gewöhnlich getrunken habe, mühelos würde
überwinden können, um deine Balkontür aufzustoßen und zu sagen, ich bin’s, Oliver, ich bin’s, ich kann nicht schlafen, lass mich zu dir. Diesen Stolperdraht.
    Der Stolperdraht drohte die ganze Nacht. Eine Eule, das Quietschen von Olivers Fensterläden im Wind, die Musik aus einer Nachtdisco in einem der benachbarten
Bergstädtchen, die Balgerei von Katzen zu später Stunde oder das Knarren eines hölzernen Türsturzes in meinem Zimmer – alles und jedes konnte mich wecken. Allerdings
kannte ich diese Geräusche von klein auf, konnte sie verscheuchen – so wie ein schlafendes Kitz mit einem Schwanzzucken ein aufdringliches Insekt vertreibt – und sofort
wieder einschlafen. Nur manchmal entschlüpfte etwas wie Furcht oder Scham meinem Schlaf, waberte formlos um mich herum, sah mir beim Schlafen zu, beugte sich schließlich zu mir herab und
flüsterte mir ins Ohr Ich versuche ja gar nicht, dich zu wecken, wirklich nicht, schlaf wieder ein, Elio, schlaf weiter  – während ich alle
Anstrengungen unternahm, um wieder in den Traum zu finden, den ich mit ein klein wenig zusätzlicher Mühe selbst würde neu schreiben können.
    Aber heute wollte der Schlaf nicht kommen, und zwei verstörende Empfindungen lösten sich gleich einem Gespensterpaar aus dem Nebeldunst des Schlafes, um mich zu bedrängen. Einmal
das Verlangen, mein Fenster aufzureißen und ohne mich zu besinnen splitternackt in sein Zimmer zu stürmen, und zum anderen meine Unfähigkeit, auch nur das kleinste Risiko
einzugehen, um mir diesen Wunsch zu erfüllen. Da waren sie, Vermächtnis meiner Jugend, Embleme meines Lebens, Hunger und Furcht, die über mir wachten und sagten: So viele vor dir haben gewagt und gewonnen, warum nicht du? Keine Antwort. Und dann höhnte es wieder: Wenn nicht später, wann dann?
    Auch an diesem Abend kam eine Antwort doch noch in Form eines Traumes, der seinerseits ein Traum innerhalb eines Traumes war. Ich erwachte mit einem Bild, das mir mehr sagte, als ich wissen
wollte, als gäbe es, so offen ich mir selbst gegenüber eingestanden hatte, was ich von ihm wollte und wie ich es wollte, noch ein paar Ecken, um die ich einen Bogen gemacht hatte. In
diesem Traum erfuhr ich endlich, was mein Körper vom ersten Tag an gewusst haben muss. Wir waren in seinem Zimmer, in seinem Bett, und anders als sonst in meinen Phantasien lag nicht ich auf
dem Rücken, sondern Oliver. Ich lag auf ihm und sah in seinem Gesicht so viel Lust und gleichzeitig so viel bereitwilliges Sichfügen, dass ich selbst im Schlaf noch zutiefst
aufgewühlt war und etwas begriff, was ich bislang nicht gewusst, ja nicht einmal geahnt hatte: Dass nicht zu geben, was ich ihm so gern geben wollte, koste es, was es wolle, das vielleicht
schlimmste Verbrechen war, das ich in meinem Leben begehen würde. Auf das Geben kam es an, das Nehmen erschien mir im Vergleich dazu so banal, so glatt, so mechanisch. Und dann hörte ich
es – und hatte es inzwischen auch schon erwartet: »Nicht aufhören, du bringst mich sonst um!«, stieß er hervor und wusste dabei natürlich, dass er genau
dasselbe vor ein paar Nächten schon in einem anderen Traum zu mir gesagt hatte, aber dass es ihm, waren die Worte einmal in der Welt, freistand, sie zu wiederholen, so oft er meine Träume
betrat, auch wenn es schien, als wüssten wir beide nicht, ob es seine Stimme war, die aus mir tönte, oder meine Erinnerung an diesen Satz, die in ihm zerbarst. Sein Gesicht, das meine
Leidenschaft zu erdulden, ihr aber eben dadurch auch Vorschub zu leisten schien, spiegelte Güte und Feuer, eine Verbindung, die ich noch nie auf einem menschlichen Antlitz gesehen hatte oder
mir auch nur hätte vorstellen können. Dieses Bild, beschloss ich, sollte zu meinem Nachtlicht werden, sollte über mir wachen an den Tagen, an denen ich kurz vor dem Aufgeben war,
sollte mein Begehren wieder wecken, wenn ich mir dessen Erlöschen wünschte, die glimmenden Reste von Mut anfachen, wenn mich die Angst umtrieb, eine Brüskierung könne jeden
Anflug von Stolz in mir zunichte machen. Es

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