Ruf mich bei Deinem Namen
Höllenqualen leiden würde.
Als ich nach oben ging, um meine Bücher zu holen, lag die gefaltete Seite aus dem liniierten Schulheft auf meinem Schreibtisch. Er hatte offenbar mein Zimmer über den Balkon betreten
und sie so hingelegt, dass sie nicht zu übersehen war. Wenn ich jetzt las, was er geschrieben hatte, war mir der Tag verdorben, und ich würde an nichts anderes denken können.
Wahrscheinlich hatte er mir aber meine Botschaft kommentarlos zurückgegeben, was soviel bedeutete wie Lag bei mir auf dem Fußboden. Gehört wohl dir.
Später! Oder es konnte auch – sehr viel brutaler – heißen: Keine Antwort .
Werd endlich erwachsen. Wir sehen uns um Mitternacht, stand unter meinem Satz.
Er hatte den Zettel vor dem Frühstück abgeliefert.
Als ich den Inhalt – mit einer Verzögerung von einigen Minuten – erfasst hatte, stellten sich sofort Verlangen, aber auch Bestürzung ein. Wollte ich das, was hier
angeboten wurde? Und – war es denn wirklich ein Angebot? Und unabhängig davon, ob ich es wollte oder nicht – wie sollte ich die Zeit bis Mitternacht überstehen? Es
war kurz vor zehn – vierzehn Stunden noch. So lange hatte ich zum letzten Mal auf ein Schulzeugnis warten müssen. Oder vor zwei Jahren, als ein Mädchen sich an einem Samstag
mit mir zum Kino verabredet hatte und ich nicht sicher war, ob sie es nicht am Ende vergessen hatte. Einen halben Tag in Wartestellung verbringen zu müssen … Wie ich das Warten hasste
und die Abhängigkeit von den Launen anderer.
Sollte ich antworten?
Eine Antwort kannst du nicht beantworten.
Und die Antwort selbst – war der Ton mit voller Absicht locker und lässig oder sollte sie klingen wie ein nachträglicher Einfall, Minuten nach dem Joggen und Sekunden vor
dem Frühstück hingekritzelt? Der kleine Stich, den er meiner opernhaften Sentimentalität versetzt hatte, war mir ebenso wenig entgangen wie das selbstbewusste Nun lass uns mal zum Wesentlichen kommen . War von dem einen oder dem anderen Gutes zu erwarten, und was würde die Oberhand behalten – der ironische Hieb oder das
muntere Setzen wir uns heute Abend einfach mal zusammen und sehen, was dabei herauskommt? Würden wir reden – nur reden? War dieses Treffen zur
Lieblingsstunde jedes Romans, jedes Theaterstücks ein Befehl oder bedeutete es Zustimmung? Und wo würden wir uns um Mitternacht treffen? Würde er im Lauf des Tages eine Gelegenheit
finden, es mir zu sagen? Oder ging er, da er ja wusste, dass ich mich neulich die ganze Nacht gequält hatte und dass der Stolperdraht zwischen unseren Enden des Balkons absolut künstlich
war, wie selbstverständlich davon aus, dass einer von uns schließlich die unausgesprochene Maginotlinie überschreiten würde, die noch niemanden aufgehalten hatte?
Und was bedeutete das für unsere fast schon rituellen vormittäglichen Fahrradtouren? Würde »Mitternacht« an ihre Stelle treten? Oder würden wir weitermachen wie
bisher, als hätte sich nichts geändert abgesehen davon, dass wir uns jetzt auf eine »Mitternacht« freuen konnten? Schenke ich ihm, wenn ich ihm jetzt in die Arme laufe, ein
vielsagendes Lächeln oder bedenke ich ihn wie bisher mit einem kalten, glasigen, diskreten, amerikanischen Blick?
Dabei war eins der vielen Gefühle, die ich ihm gern gezeigt hätte, wenn wir uns wieder trafen, auch Dankbarkeit. Man konnte Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, ohne als aufdringlich oder
linkisch zu gelten. Oder gehörte selbst zur dezentesten Dankbarkeit immer jener Extraschlag Sirup, der jeder mediterranen Leidenschaft diesen unverkennbar rührseligen, theatralischen Zug
verleiht? Einer Leidenschaft, die nie Ruhe gibt, die nichts herunterspielen kann, die artikulieren, proklamieren, deklamieren muss?
Sagst du nichts, wird er denken, dass du deine Botschaft bereust.
Sagst du etwas, ist es bestimmt total daneben.
Was also tun?
Warten.
Das war mir von Anfang an klar. Warten also … Ich würde den ganzen Vormittag arbeiten. Schwimmen. Nachmittags vielleicht Tennis spielen. Mich mit Marzia treffen. Um Mitternacht
zurück sein. Nein, eine halbe Stunde davor. Mich waschen? Nicht waschen? Dieser Wechsel von einem Körper zum anderen …
Womöglich machte er es ja genauso? Wechselte von einem zum anderen …
Dann packte mich schiere Panik. Bedeutete Mitternacht ein Gespräch, eine Klärung im Sinne von Kopf hoch, reiß dich zusammen, werd endlich
erwachsen?
Aber warum damit bis Mitternacht warten? Wer führt solche
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