Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
einstellen: Huhuu, die Geisterstunde ist gekommen?
    Bald hörte ich im Hof die Stimmen unseres Pärchens, das draußen wohl auf den Juniorprofessor wartete, der die beiden in ihre Pension zurückfahren wollte. Der junge Prof
ließ sich Zeit und die beiden schwatzten müßig miteinander. Einer kicherte.
    Um Mitternacht drang kein Laut aus seinem Zimmer. Hatte er mich etwa wieder versetzt? Das wäre zu viel. Ich hatte ihn nicht zurückkommen hören. Schön, dann musste er eben zu
mir kommen. Oder sollte ich doch zu ihm gehen? Warten wäre eine Tortur.
    Ich gehe zu ihm.
    Ich trat kurz auf den Balkon und sah zu seinem Zimmer hin. Kein Licht. Ich würde trotzdem klopfen.
    Oder warten. Oder nicht hingehen.
    Nicht hinzugehen schien mir plötzlich so erstrebenswert wie sonst nichts auf der Welt. Es zerrte an mir, zog mich sacht zu sich heran wie jemand, der schon ein- oder zweimal im Schlaf mit
mir geflüstert hatte und mir jetzt, als er merkte, dass ich nicht aufwachte, sacht auf die Schulter schlug und mir zuredete, alles zu versuchen, um heute Nacht nicht an sein Fenster klopfen zu
müssen. Der Gedanke spülte über mich hin wie das Wasser über die Schaufenster im Blumengeschäft, war wie eine kühlende Lotion nach der Dusche, wenn du einen ganzen Tag
in der Sonne verbracht hast. Die Sonne ist schön, aber die lindernde Sonnenmilch ist noch schöner. Wie Taubheit erfasst der Gedanke erst deine Gliedmaßen, dann den ganzen
Körper, arbeitet mit allen möglichen Argumenten, zuerst ganz törichten – heute Abend ist es sowieso viel zu spät, um irgendwas zu unternehmen –, nach und
nach mit gewichtigeren:Wie wirst du den anderen gegenübertreten, wie dir selbst?
    Warum hatte ich daran noch nie gedacht? Weil ich die Vorstellung auskosten und bis zuletzt aufheben wollte? Weil ich wollte, dass die Gegenargumente sich von selbst einstellten, ohne dass ich
sie rufen musste, so dass man mich nicht für sie verantwortlich machen konnte? Lass das, lass die Finger davon, Elio  – die Stimme meines
Großvaters. Ich war nach ihm genannt, und er sprach zu mir von jenem Bett aus, auf dem er eine sehr viel bedrohlichere Grenzlinie überschritten hatte als die zwischen meinem Zimmer und
dem von Oliver. Kehr um. Wer weiß, was dich in jenem Zimmer erwartet. Nicht das Prickelnde der Entdeckung, sondern das Bahrtuch der Verzweiflung, wenn über die
gereizten Nerven deines Körpers die Schande der Ernüchterung gekommen ist. Die Jahre beobachten dich, jeder Stern, den du heute Nacht siehst, kennt schon deine Qual, deine Vorfahren sind
hier versammelt und haben nichts zu geben oder zu sagen. Non c’andà, geh nicht .
    Aber ich liebte die Angst – wenn es denn Angst war, und das wussten sie nicht, meine Vorfahren. Es war die Unterseite der Angst, die ich liebte, die wie die weichste Wolle auf dem
Unterbauch des gröbsten Schafes war. Ich liebte die Kühnheit, die mich vorantrieb, sie erregte mich, weil sie aus der Erregung selbst geboren war. »Nicht aufhören, du bringst
mich sonst um« oder »Ich sterbe, wenn du aufhörst.« Mit diesen Worten im Ohr gab es kein Halten mehr.
    Ich klopfe an die Scheibe, ganz leise. Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich habe nichts zu fürchten, warum also diese Angst? Warum? Weil alles mich ängstigt, weil Angst und
Begehren sich miteinander oder mit mir streiten, ich kann nicht mehr erkennen, ob ich möchte, dass er die Tür aufmacht oder hoffe, dass er mich versetzt hat.
    Stattdessen höre ich jetzt, dass im Zimmer etwas rumort, als ob jemand nach seinen Hausschuhen sucht. Dann geht ein mattes Licht an. Dieses Nachtlicht, fällt mir ein, habe ich mit
meinem Vater an einem Frühjahrsabend in Oxford gekauft, als unser Hotelzimmer zu dunkel war und er nach unten gegangen und zurückgekommen war, um mir zu erzählen, es gäbe um die
Ecke einen Laden, der rund um die Uhr geöffnet sei und Nachtlichter verkaufte. Warte hier, ich bin gleich wieder da. Ich komme mit, sagte ich und zog meinen
Regenmantel über den Pyjama, denselben Pyjama, den ich heute trug.
    »Ich bin so froh, dass du gekommen bist«, sagte er. »Ich habe dich in deinem Zimmer herumgehen hören und dachte schon, du wolltest dich hinlegen und hättest es dir
anders überlegt.«
    »Anders überlegt? Wie kommst du darauf?«
    Ganz eigenartig, seine Befangenheit. Ich hatte mit einem Hagelschauer kleiner Ironien gerechnet und war entsprechend nervös gewesen. Stattdessen entschuldigte er sich wie jemand, der
vergessen hat,

Weitere Kostenlose Bücher