Ruf mich bei Deinem Namen
dort erwartete, anfangs nicht gefiel, die Sache trotzdem durchziehen
würde. Lieber ein für allemal Bescheid wissen, als den Rest des Sommers oder vielleicht mein Leben lang mit meinem Körper in Streit liegen!
Ich würde meine Entscheidung kühl und überlegt treffen. Und wenn er fragte, würde ich antworten: Ob ich dabeibleiben werde, kann ich nicht sagen, aber ich muss wissen, woran
ich bin. Besser mit dir als mit einem anderen. Ich will deinen Körper kennen lernen, ich will wissen, wie du tickst, ich will dich erfahren und durch dich auch mich.
Marzia ging kurz vor dem Abendessen. Sie hatte sich mit Freunden fürs Kino verabredet. Komm doch mit, sagte sie. Ich zog ein Gesicht, als ich die Namen hörte und sagte, ich müsse
üben. Übst du nicht jeden Vormittag? Heute war ich spät dran – du weißt ja … Sie begriff und lächelte.
Noch drei Stunden.
Den ganzen Nachmittag hatte bedrücktes Schweigen zwischen uns geherrscht. Ohne die Aussicht auf das zugesagte Gespräch hätte ich nicht gewusst, wie ich einen weiteren Tag dieser
Art überleben sollte.
Beim Essen waren unsere Gäste ein Juniorprofessor für Musik mit einer halben Stelle und ein schwules Paar aus Chicago, das darauf bestand, sich in schauderhaftem Italienisch mit uns zu
verständigen. Die beiden Männer saßen nebeneinander, meiner Mutter und mir gegenüber. Der eine schwang sich dazu auf, Verse von Pascoli zu rezitieren, worauf Mafalda, als sie
mein Gesicht sah, eine ihrer Grimassen schnitt, die mich zum Lachen bringen sollte. Mein Vater hatte mir ans Herz gelegt, mich im Beisein der Wissenschaftler aus Chicago nicht daneben zu benehmen.
Ich würde das pinkfarbene Hemd anziehen, das ein entfernter Cousin aus Uruguay mir geschenkt hatte, sagte ich. Mein Vater lachte nur und meinte, ich sei zu alt, um die Menschen nicht so zu
akzeptieren, wie sie seien, aber in seinen Augen glitzerte es, als beide in rosa Hemden erschienen. Sie waren gleichzeitig rechts und links dem Taxi entstiegen, beide mit einem Strauß
weißer Blumen in der Hand. Sie wirkten – und meinem Vater dürfte das nicht entgangen sein – wie eine aufgemotzte Version von Tintins »Dupond et
Dupont«.
Wie mochte ihr gemeinsames Leben aussehen?
Es war schon sonderbar, beim Essen die Minuten zu zählen und dabei zu wissen, dass ich an diesem Abend mehr mit Tintins Zwillingen gemein hatte als mit meinen Eltern oder sonst jemandem auf
der Welt.
Ich guckte sie an und überlegte, wer wohl oben und wer unten lag, Tweedledee oder Tweedledum.
Kurz vor elf sagte ich meinen Eltern und den Gästen Gute Nacht. »Und Marzia?«, fragte mein Vater mit seinem anzüglichen Blick. Morgen, sagte ich.
Ich wollte allein sein. Duschen. Lesen. Vielleicht Tagebuch schreiben. Mich auf Mitternacht konzentrieren, ohne im einzelnen darüber nachdenken zu müssen.
Auf dem Weg nach oben versuchte ich mir vorzustellen, wie ich morgen früh diese Treppe hinuntergehen würde. Bis dahin war ich womöglich ein anderer Mensch geworden. Ob mir dieser
andere gefallen würde, den ich noch nicht kannte und der mich vielleicht nicht einmal grüßen, der jeden Kontakt mit mir meiden würde, weil ich ihn in diese Lage gebracht hatte?
Oder würde ich genau derselbe sein wie der, der jetzt die Treppe hochging, ohne eine Veränderung, ohne dass sich auch nur einer meiner Zweifel zerstreut hätte?
Vielleicht tat sich ja auch gar nichts. Er konnte sich verweigern, und auch wenn niemand erfuhr, dass ich ihn gefragt hatte, war das trotzdem eine Demütigung – um nichts und
wieder nichts. Er würde Bescheid wissen, ich würde Bescheid wissen.
Aber von bloßer Demütigung konnte ja gar keine Rede mehr sein. Nach Wochen des Sehnens und des Wartens und – ja, zugegeben – des Bettelns, nach geweckten
Hoffnungen, gegen die ich nach Kräften angekämpft hatte, wäre eine Weigerung die Katastrophe schlechthin. Wie kann man danach je wieder schlafen? Ins eigene Zimmer
zurückschleichen, so tun, als schlüge man ein Buch auf, um sich in den Schlaf zu lesen?
Oder: Wie schläft man wieder ein, wenn man nicht mehr unberührt ist? Von dort gab es keinen Weg zurück. Was so lange in meinem Kopf gewesen war, wäre dann in der wirklichen
Welt angekommen, triebe nicht mehr in meinem Märchenland der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich kam mir vor wie jemand, der einen Tattoosalon betritt und einen langen letzten Blick auf seine
nackte linke Schulter wirft.
Sollte ich pünktlich sein?
Mich pünktlich
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