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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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Strategie.
    Und in diesem Augenblick traf es mich wie ein unerwarteter Querschläger: Hatte Oliver es mit mir genauso gemacht? Hatte er mich absichtlich die ganze Zeit ignoriert, um mich desto leichter
für sich zu gewinnen?
    Hatte er nicht das angedeutet, als er sagte, er habe meine Versuche, ihn zu ignorieren, durchschaut?
    Wir verließen die Buchhandlung und zündeten unsere Zigaretten an. Nach einer Minute hörten wir ein lautes metallisches Rasseln – der Besitzer ließ das Rollgitter
herunter. »Liest du wirklich so gern?«, fragte sie, als wir im Dunkeln zur Piazzetta zurückschlenderten.
    Ich sah sie an, als hätte sie mich gefragt, ob ich Musik liebte oder Brot und gesalzene Butter oder reifes Obst im Sommer. »Missversteh mich nicht«, sagte sie. »Ich lese
auch gern. Aber ich erzähle es keinem.« Endlich jemand, der die Wahrheit sagt, dachte ich. Warum sie es keinem erzählte, wollte ich wissen. »Ach, ich weiß
nicht …« Das war nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, sie brauchte wohl Zeit, um zu überlegen oder um sich herauszureden. »Leute, die lesen, sind Verberger. Sie
verbergen, wer sie in Wirklichkeit sind. Wer etwas verbirgt, kann sich oft selbst nicht leiden.«
    »Verbirgst du, wer du in Wirklichkeit bist?«
    »Manchmal. Du nicht?«
    »Doch, wahrscheinlich schon.« Und dann stolperte ich ganz gegen meinen Willen in eine Frage hinein, die ich sonst nie zu stellen gewagt hätte. »Verbirgst du dich vor
mir?«
    »Nein, nicht vor dir. Oder vielleicht doch – in gewisser Weise.«
    »In welcher Weise?«
    »Das weißt du doch.«
    »Warum sagst du das?«
    »Weil ich glaube, dass du mir weh tun könntest, und das will ich nicht.« Sie überlegte einen Augenblick. »Nicht, dass du einem absichtlich weh tun willst, sondern
weil du dich andauernd anders besinnst, andauernd entwischst, so dass niemand weiß, wo du zu finden bist. Du machst mir Angst.«
    Wir waren so langsam gegangen, dass wir es kaum merkten, als wir mit unseren Rädern zum Stehen kamen. Ich beugte mich zu ihr herüber und küsste sie leicht auf die Lippen. Sie
stellte ihr Rad an der Tür eines geschlossenen Geschäfts ab und lehnte sich an die Wand. »Küss mich noch mal«, verlangte sie. Ich ließ mein Rad auf den
Seitenstützen mitten auf der Gasse stehen, nahm ihr Gesicht in beide Hände und schmiegte mich an sie. Meine Hände waren unter ihrem Hemd, ihre in meinem Haar. Ich fand es schön,
wie unkompliziert, wie gerade heraus sie war. In jedem ihrer Worte – ungezwungen, freimütig, menschlich – war das heute Abend zum Ausdruck gekommen, und auch in der Art,
wie ihre Hüften auf meine reagierten, ohne Hemmungen, ohne Getue, als gäbe es da eine fließende, unmittelbare Verbindung zwischen Lippen und Hüften. Ein Kuss auf den Mund war
nicht das Vorspiel zu einem weitergehenden Kontakt, es war der Kontakt. Nur noch unsere Kleidung trennte uns, so dass ich nicht überrascht war, als sie mir eine Hand in die Hose schob und
sagte: » Sei duro, duro, wie hart du bist.« Und diese natürliche, ungezwungene Art machte mich noch härter.
    Ich hätte sie gern angeschaut, ihr in die Augen gesehen, als sie mich in der Hand hielt, hätte ihr gern gesagt, wie lange ich mir schon wünschte, sie zu küssen, hätte
gern etwas gesagt, um ihr zu beweisen, dass der Typ, der sie heute abgeholt hatte, nicht mehr der kalte, stumpfe leblose Junge war, den sie kannte, aber sie kam mir zuvor: » Baciami ancora , küss mich noch mal.«
    Ich küsste sie, aber in Gedanken war ich schon bei Monets Malplatz. Sollte ich es vorschlagen? Mit dem Rad waren es nur fünf Minuten, besonders wenn wir die Abkürzung nahmen und
quer durch die Olivenhaine fuhren. Wir würden dort auf andere Liebespaare treffen. Sonst gab es noch den Strand, da war ich schon öfter gewesen, alle machten es da. Ich hätte auch
mein Zimmer anbieten können, die zu Hause hätten nichts gemerkt, oder es hätte sie nicht interessiert.
    Ein Bild blitzte durch meinen Kopf: Wie wir – sie im Bikini – morgens nach dem Frühstück im Garten saßen und sie mich ständig drängte, mit ihr
schwimmen zu gehen.
    » Ma tu mi vuoi veramente bene, magst du mich wirklich?«, fragte sie. Kam das aus heiterem Himmel – oder entdeckte ich denselben
trostsuchenden Blick, den sie mir vor der Buchhandlung zugeworfen hatte?
    Unbegreiflich, wie sich Keckheit und Kummer, wie sich das Wie hart du bist und das Magst du mich wirklich? miteinander verquicken
konnten. Und ein Rätsel war mir

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