Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
Gespräche ausgerechnet um Mitternacht?
    Oder bedeutete Mitternacht Mitternacht?
    Und was trägt man um Mitternacht?
    Der Tag verlief so, wie ich gefürchtet hatte. Oliver schaffte es, das Haus zu verlassen, ohne mir gleich nach dem Frühstück Bescheid zu sagen, und kam erst zum
Lunch zurück. Er saß an seinem gewohnten Platz neben mir. Ich machte ein paar Anläufe zu einer unverbindlichen Unterhaltung, aber schnell wurde mir klar, dass wir wieder einmal
beide versuchten, sehr deutlich zu machen, dass unser Schweigen keine Komödie mehr war.
    Nach dem Lunch ging ich zu einem Mittagsschlaf nach oben. Ich hörte, wie er mir folgte und seine Tür schloss.
    Später rief ich Marzia an. Wir trafen uns auf dem Tennisplatz. Zum Glück war sonst niemand da, es war schön ruhig, und wir spielten stundenlang und mit wachsender Begeisterung in
der sengenden Sonne. Ab und zu setzten wir uns auf die alte Bank im Schatten und hörten den Grillen zu. Mafalda brachte uns Erfrischungen, sagte aber gleich dazu, sie sei zu alt für so
was, und wenn wir noch was haben wollten, müssten wir es uns selber holen. »Aber wir haben dich um gar nichts gebeten«, wandte ich ein. »Dann hättet ihr nicht trinken
dürfen«, sagte sie und schlurfte, zufrieden über den verbuchten Punkt, zurück ins Haus.
    Vimini, die gern anderen beim Spielen zusah, war an diesem Tag nicht gekommen. Sie war wohl mit Oliver an ihrem gemeinsamen Lieblingsplatz.
    Ich liebte das Augustwetter. Um diese Jahreszeit war die Stadt stiller als sonst. Alles war im Urlaub, und die Touristen, die sich gelegentlich zu uns verirrten, waren bis sieben meist wieder
weg. Am meisten liebte ich die Nachmittage: Den Duft des Rosmarins, die Hitze, die Vögel und Zikaden, die wogenden Palmwedel, die Stille, die sich wie ein leichtes Leinentuch über einen
glutheißen Tag legte, dazu als Glanzlichter den Gang zum Strand und den Weg zurück ins Haus zum Duschen. Vom Tennisplatz sah ich gern zu unserem Haus hoch, wo die leeren Balkons mit
Blick auf das endlose Meer ein Sonnenbad nahmen. Da war mein Balkon, das war meine Welt. Von meinem Platz aus konnte ich den Blick herumgehen lassen und sagen: Hier ist unser Tennisplatz, dort
unser Ziergarten, der Obstgarten, der Geräteschuppen, unser Haus, da unten unser Bootssteg – alle Dinge, alle Menschen, die mir am Herzen liegen, sind hier. Meine Familie, meine
Instrumente, meine Bücher. Mafalda, Marzia, Oliver.
    Als ich an jenem Nachmittag neben Marzia saß, die Hand auf ihrem Schenkel und Knie, musste ich denken, dass ich es in Olivers Worten wirklich gut getroffen hatte im Leben. Wie lange das
anhalten würde, konnte man nicht wissen, so wie es auch sinnlos war, Mutmaßungen darüber anzustellen, was dieser Tag noch bringen würde. Oder diese Nacht. Jede einzelne Minute
fühlte sich an wie zum Zerreißen gespannt.
    Dennoch war mir klar, dass das, was ich empfand, das bedingte Glück von Menschen war, denen ihr Aberglaube nicht erlaubt, damit zu rechnen, dass sie alles bekommen, was sie sich je
erträumt haben, die aber viel zu dankbar sind, um nicht zu wissen, wie leicht man es ihnen nehmen könnte.
    Nach dem Tennis und vor dem Gang zum Strand ging ich mit Marzia über die Außentreppe und den Balkon auf mein Zimmer. Nachmittags kam dort niemand vorbei. Ich schloß die
Fensterläden, ließ aber die Fenster offen, so dass das gedämpfte Nachmittagslicht ein Streifenmuster auf das Bett, an die Wand, auf Marzia zeichnete. Wir liebten uns wortlos und mit
offenen Augen.
    Insgeheim hoffte ich fast, wir würden an die Wand stoßen oder sie würde einen Schrei nicht unterdrücken können und dadurch Oliver auf das aufmerksam machen, was sich im
Nebenzimmer abspielte. Ich stellte mir vor, wie er in seiner Siesta meine Bettfedern hören und in Unruhe geraten würde.
    Als wir zu der kleinen Bucht hinuntergingen, stellte ich voller Genugtuung fest, dass es mir einerlei war, ob er uns auf die Schliche kam – so wie es mir einerlei war, ob er heute
Abend zu unserem Treffen kommen würde oder nicht. Der ganze Oliver war mir einerlei. Seine Schultern, die hellen Stellen an Armen, Fußsohlen, Handflächen, Bauch –
einerlei. Ich würde viel lieber die Nacht mit Marzia verbringen als auf ihn zu warten und mir Schlag Mitternacht banale Frömmeleien anzuhören. Was hatte ich mir nur heute früh
bei meiner Botschaft gedacht?
    Andererseits wusste ich genau, dass ich, wenn es zu diesem mitternächtlichen Treffen kam und mir das, was mich

Weitere Kostenlose Bücher