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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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dir übrig, wenn
jemand deine Zehen mit seinen antippt? Jetzt rückte ich näher an ihn heran und legte die Arme um ihn – mit einer kindlichen Bewegung, von der ich nur hoffen konnte,
dass er sie als Umarmung erkannte. Er reagierte nicht. »Immerhin ein Anfang«, sagte er schließlich, vielleicht etwas launiger, als mir lieb sein konnte. Ich zuckte nur die
Schultern, hoffte, er würde es spüren und keine Fragen mehr stellen. Ich wollte kein Gespräch. Je weniger wir sprachen, desto ungehemmter konnten wir uns bewegen. Es war schön,
ihn zu umarmen.
    »Macht dich das glücklich?«, fragte er.
    Ich nickte in der Hoffnung, er würde mein Nicken spüren und auf Worte verzichten.
    Als drängte ihn meine Stellung, es mir gleichzutun, legte auch er den Arm um mich. Er streichelte mich nicht, dieser Arm, und hielt mich auch nicht richtig fest. Kameradschaftliche Gesten
waren in diesem Augenblick das Letzte, was ich mir wünschte. Deshalb löste ich mich einen Augenblick von ihm, schob beide Arme unter sein lockeres Hemd und drückte ihn fest. Ich
wollte seine Haut fühlen.
    »Bist du sicher, dass du das willst?«, fragte er, als habe ihn dieser Zweifel die ganze Zeit zögern lassen.
    Ich nickte wieder. Es war gelogen. Inzwischen war ich mir gar nicht mehr sicher. Wann würde meine Umarmung zu Ende gehen, wann würde er, wann würde ich ihrer müde werden?
Bald? Später? Jetzt?
    »Wir haben nicht geredet«, sagte er.
    Ich zuckte die Schultern. Nicht nötig, sollte das heißen.
    Er nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich an wie neulich auf Monets Malplatz, aber diesmal noch eindringlicher, denn wir wussten beide, dass die Grenze schon überschritten war.
»Darf ich dich küssen?« Was für eine Frage nach unserem Kuss auf dem Malplatz! Oder hatten wir einen Schlussstrich gezogen und fingen noch einmal neu an?
    Ich hatte schon meinen Mund auf den seinen gelegt, so wie ich es in der vergangenen Nacht mit Marzia gemacht hatte. Alles Störende war beseitigt, sekundenlang schien der Altersunterschied
aufgehoben, wir waren einfach zwei Männer, die sich küssten, und selbst das wurde immer bedeutungsloser, wir hörten auf, zwei Männer zu sein, waren nur noch zwei Menschen. Ein
wunderbar egalitärer Moment, ein wunderbares Gefühl, gleichzeitig jünger und älter zu sein, Mensch und Mitmensch, Mann und Mann, Jude und Jude. Ich freute mich an dem
Nachtlicht, das mir Geborgenheit schenkte wie in jener Nacht in dem Hotelzimmer in Oxford. Sogar das Muffig-Verbrauchte meines Zimmers gefiel mir in diesem Moment, dieses Zimmers, in dem seine
Sachen unordentlich herumlagen, das aber, wie ich fand, mit ihm als Sachwalter mehr Lebensqualität ausstrahlte als bei mir – hier ein Bild, dort ein zum Beistelltisch
umfunktionierter Stuhl, Bücher, Karten, Noten.
    Ich schlüpfte unter die Decke und freute mich an dem Geruch. Dass auf dem Bett Sachen lagen, die er nicht weggeräumt hatte und an die ich mit den Knien und mit dem Fuß
stieß, fand ich irgendwie gut. Sie störten mich nicht, weil sie zu seinem Bett, zu seinem Leben, seiner Welt gehörten.
    Auch er legte sich unter die Decke und fing unvermittelt an, mich auszuziehen. Der Gedanke, wie ich es mit dem Ausziehen halten sollte, hatte mich sehr beschäftigt, ich hatte mir
vorgestellt, wie ich, wenn er nicht half, gleich den Mädchen in den Kinofilmen mein Hemd ausziehen, meine Unterhose fallen lassen und dann splitternackt und mit hängenden Armen dastehen
würde. Das bin ich, so bin ich gemacht, nimm mich, ich bin dein. Seine Initiative hatte das Problem gelöst. »Das kommt weg und jetzt das und jetzt das und jetzt das«,
flüsterte er, so dass ich lachen musste, und plötzlich war ich völlig nackt, spürte das Gewicht der Decke auf meinem Schwanz, es gab kein Geheimnis mehr auf der Welt, denn dass
ich mir gewünscht hatte, mit Oliver ins Bett zu gehen war mein einziges Geheimnis gewesen, und da lag ich nun. Wunderbar, seine Hände unter der Decke auf mir zu fühlen, als habe ein
Teil von uns, wie ein Voraustrupp, schon zur Intimität gefunden, während das, was außerhalb der Decke lag, sich noch mit Feinheiten abmühte – so wie Nachzügler
draußen in der Kälte stehen und mit den Füßen stampfen, wahrend alle anderen in einem überfüllten Nightclub schon warme Hände bekommen. Er war noch angezogen,
ich fand es schön, dass ich als erster nackt war. Dann küsste er mich, einmal und noch einmal, es war ein sehr tiefer Kuss diesmal, als könne auch

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